Besinnen

Es heißt, Weihnachten sei ein besinnliches Fest. Man strebt eine Seelenstimmung an, durch die man dem Treiben der lauten Welt entkommt.            Text: Norbert Liszt. 

Man will es sich zu Weihnachten gut gehen lassen, die Sorgen, Ängste, Konflikte, … für gewisse Zeit vergessen lassen und in eine feierliche Stimmung kommen. Doch so mancher, der den Auslöser dieser Seelenverfassung erhaschen möchte, greift ins Leere, da er vom Sinn dieses Festes nicht berührt wird.

Den Begriff „Besinnen“ fasse ich so auf, dass man sich mit allen seinen Seelenkräften einer Sache widmet, ihr Wert und Bedeutung gibt. Welcher Sache will man sich also zu Weihnachten widmen? Das Christkind kommt! Aber wie soll man das, was da Jahr für Jahr kommt und so viele Menschen wie auch immer bewegt, verstehen?

Das Marionettentheater

Marionette

Das Werk von Heinrich von Kleist „Über das Marionettentheater“¹ könnte uns dabei behilflich sein. In diesem Essay kommt der Ich-Erzähler mit einem Tänzer über das Marionettentheater ins Gespräch. Dieser ist der Meinung, dass sich ein Tänzer darauf besinnen sollte, was er von den Puppen lernen könne. Die Linien, die der Marionettenspieler beschreibt, seien etwas sehr Geheimnisvolles. Sie sind nichts anderes, als der Weg der Seele des Tänzers und die Linie könne nicht anders gefunden werden, als dass sich der Marionettenspieler in den Schwerpunkt der Puppe versetzt. Das bedeutet, der Marionettenspieler muss geübt sein und neben dem Verständnis für die Funktion der Puppen auch Empfindungsfähigkeit haben, um selbst (innerlich) zu tanzen. Er kann also der Puppe nicht einfach seinen Willen aufzwingen, er muss sich auch mitbewegen und damit erspüren, wie sich die einzelnen Bewegungen in die Gesamtkomposition einfügen.

Der Tänzer behauptet, wenn ihm jemand eine Marionette nach seinen Vorstellungen bauen wollte, könnte er mit dieser einen Tanz darstellen, der an Anmut von keinem menschlichen Tänzer zu erreichen wäre. Verstand, Wille und Empfindung sind im Marionettenspieler und die Puppe folgt seinen Intentionen voll und ganz. Doch im Gegensatz zu uns Menschen wissen ihre Körper nichts von der Trägheit der Materie. Nur ein Gott könne sich auf diesem Felde mit der Materie messen. Der Mensch, der vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist fehlerhaft. Der Eingang zum Paradies ist verriegelt. Wir können nur versuchen, zu schauen, ob das Paradies hinten offen steht, indem wir eine Reise um die Welt machen. In die natürliche Grazie des Menschen ist durch die Bewusstheit viel Unordnung gekommen.

Er berichtet auch von einer Reise nach Russland. Auf einem Landgut lebt ein Edelmann. Dessen Söhne üben sich oft im Fechten. Im sportlichen Duell besiegte der Tänzer den ältesten Sohn. Daraufhin wurde er zu einem Bären geführt, den der Vater dressieren ließ. Er sollte gegen den Bären antreten. Der Bär wehrte alle seine Stöße ab und auf Tricks ging er gar nicht ein.

Der Tänzer erklärt: „Wir sehen, dass in dem Maße als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. So findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein, so dass sie zu gleicher Zeit in demjenigen menschlichen Körper am reinsten erscheint, der entweder gar kein oder ein unendliches Bewusstsein hat, das heißt in dem Gliedermann oder in dem Gott.“

Bewusstseinsentwicklung

Die Geschichte befasst sich mit der Bewusstseinsentwicklung des Menschen. Alle Naturreiche, die er in seiner Entwicklung durchschreitet, trägt er in sich. Er ist physisch-mineralischer Natur – im Gliedermann ist noch kein Leben. Er ist ganz abhängig von äußeren Bedingungen. Er ist pflanzlicher Natur – Das Leben bildet seine Gestalt von innen her. Er ist Tier – und damit empfindungsfähig. Er ist schließlich Mensch – indem er fähig wird sich selbst und die Welt zu erkennen und aus dieser Erkenntnis heraus zu handeln. Das macht ihn zum Ebenbild Gottes. Doch muss er einen langen Weg in kleinen Schritten gehen, um dieser Ebenbildschaft gerecht zu werden. Der Weg führt von außen nach innen; vom äußeren Gesetz zum Gesetz, das man sich selber gibt; vom Geschöpf zum Schöpfersein. Der einzelne Mensch bekommt Schritt für Schritt die Verantwortung für die Menschheits- und Weltentwicklung übertragen.

Der Bär in der Kleist-Erzählung ist das noch naturbegabte Wesen, das zwar Empfindungs-, aber noch keine irdische Erkenntnisfähigkeit besitzt. Seine Intelligenz ist noch all-verbunden, ist noch von kosmischer Art, dadurch hat er Sicherheit in seinem Leibes- und Seelenleben. Er fragt noch nicht: „Was bin ich in der Welt?“ Das Ohnmachtsgefühl das diese offene Frage auslöst, berührt ihn noch nicht. Der Verstand, der die Welt nur bruchstückhaft erfasst, stört sein Regen und Bewegen nicht. Der Instinkt ist ihm noch ein sicherer Führer. Diesem sicheren Führer muss der Mensch auf seinem Freiheitsweg entsagen. Er gibt die All-Verbundenheit auf, damit er die Welt in seinem Inneren neu entstehen lassen kann.

Es gibt wahrscheinlich zahllose Interpretationen dieser Geschichte. Ich fasse sie so auf, wie der Tänzer es anmerkt, dass es um den Weg der Seele des Tänzers, eigentlich des Menschen im Allgemeinen, geht. Die Marionette könnte stehen für den Menschen als Geschöpf Gottes. Der Gottesgeist führt ihn und gibt ihm Beweglichkeit. Das verleiht ihm Anmut und gibt ihm Halt. Er hat es nicht nötig sich zu „zieren“, da er sicher durchs Leben geführt wird und noch ganz im Willen seines Schöpfers lebt. Der Marionettenspieler meiner Interpretation, ist Bild für den Weltengrund des Seins, der die alles verbindende Wesenheit ist, in welcher der Mensch ruht. Doch dieser Weltengrund hat Besonderes vor mit seinen Geschöpfen. Der Mensch soll, wie er selbst, Schöpfer werden. Das bedeutet, er muss lernen, ohne Einfluss von außen, aus seinem Inneren heraus, die Welt zu erfahren und aus dieser Erfahrung die Weltentwicklung weiterzuführen. In kleinen Schritten und langen Zeiträumen soll er unabhängig werden vom (Marionetten)Gott. Das führt allerdings dazu, dass er seine gottgegebene Grazie und Sicherheit nach und nach verliert. Das ihm früher naturhaft gegebene Wissen verblasst. Er wird immer mehr auf sich selbst beschränkt. In sich soll er erfahren „was die Welt im Innersten zusammenhält“ und wo die „Quellen alles Lebens“² sich befinden, mit deren Wassern er schöpferisch tätig werden kann.

In der Gottverlassenheit erlebt er seine Ohnmacht und macht sich auf den Weg, zu suchen, was ihn aus dieser Lage befreien könnte und findet in sich ein zartes Erkenntnislicht. Bei genauer Besinnung bemerkt er, dass es heller werden kann, wenn er es ernst meint, mit ihm die Welt zu beleuchten. Doch die Erkenntnisfähigkeit steht auf schwachen Beinen. Sie ist dem Menschen zunächst kein sicherer Führer. Im Gegenteil sie führt ihn auf Irrwege. Wie kann er wissen, was ihn auf den rechten Weg bringt? Heinrich von Kleist stellt uns diesen irrenden Menschen vor. Er scheint uns damit sagen zu wollen, dass er in dieser unvollkommenen Bewusstseinssituation allen anderen Wesen unterlegen ist und dass ihn nur ein „unendliches Bewusstsein“ aus dieser Lage befreien kann. Also ein Bewusstsein, dass die irdische Begrenzung überwindet und in der Lage ist in geistige Welten zu blicken.

Die Geburt der Göttlichkeit in unserer Seele

Die Welt erleben und sie zu erkennen, sind Bedürfnisse, deren Befriedigung unseren Willen beflügelt. Ich stehe zwar mit meinem Bewusstsein der Welt gegenüber, doch kann ich sie in kleinen Schritten in mich hineinnehmen. Nur über die Selbst- und Welterkenntnis führt der Weg zurück ins Paradies. Das wollte Heinrich von Kleist wahrscheinlich zum Ausdruck bringen mit der Aussage seines Tänzers, dass wir eine Reise um die Welt machen müssen, da das Paradies möglicherweise hinten offen steht. Dass wir der Welt gegenüberstehen, ist einerseits unser größtes Problem, andererseits erarbeiten wir uns göttliche Fähigkeiten (ein unendliches Bewusstsein), wenn wir die Mühen auf uns nehmen, sie zu ergründen.

Wodurch aber kommen wir in diese Lage? Was trennt uns von der Welt und ermöglicht uns die Trennung eines Tages aus innerem Antrieb zu überwinden? Die Kraft, die das vermag, muss göttlicher Art sein. Die Gottheit, in der wir ursprünglich lebten, setzt uns aus sich heraus. Sie gibt uns frei und zieht in unser Inneres ein. Ich würde es die Geburt der Göttlichkeit in unserer Seele nennen – die Christgeburt. Es ist die Kraft des Sohnesgottes. Sie zieht ein in unsere Seele, will in ihr und aus ihr wirken und sich mit uns verbinden. Aber sie zwingt uns nicht. Sie überlässt es unserer Initiative, einen Bund mit ihr zu schließen und mit ihr „durch ein Unendliches zu gehen“, um uns selbst und die Welt zu ergründen, sie zu pflegen und zu erneuern. Die Besinnung darauf kann uns helfen, Weihnachten so zu feiern, dass das Christkind in uns lebendig wird. Es kommt als Kind der Menschheit³, um uns uns selbst zu schenken.

Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir:

Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.

Angelus Silesius

¹ Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater

² J. W. von Goethe, Faust I

³ Rudolf Steiner, Kindheitskraft und Ewigkeitskraft. Eine Weihnachtsgabe. Vortrag, 23.Dez.1913

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