Faszination Steine

Text: Dankmar Bosse.        Der Goetheanismus als Weg von der Naturwissenschaft zur Anthroposophie am Beispiel von Granit und Porphyr.

Zwischen den Beschreibungen der heutigen Naturwissenschaft und den Forschungsergebnissen von Rudolf Steiner besteht kein Abgrund, über den eine Brücke gebaut werden müsste, wie es oftmals heißt. Durch die goetheanistische Methode wird es möglich, auf einem kontinuierlichen Erkenntnisweg überall in der Sinneswelt das Geistige wahrzunehmen.

Der erste Schritt auf dem Weg des Goetheanismus ist die gründliche Beobachtung der Phänomene. Sie bildet eine sichere Grundlage für alle weiteren Schritte. Diese führen von der Folge der Phänomene durch in die Einsicht der Werdeprozesse weiter zu innerlich als wahr erlebten Begriffen, die im Einklang mit der Anthroposophie stehen, so dass ein umfassendes Gesamtbild entstehen kann – beispielsweise auch für die Gesteinsbildung und die Erdgeschichte.

Die Fakten in den Geowissenschaften haben heute unübersehbar zugenommen. Sie zeigen, wie unsere Erde völlig verschieden ist von allen anderen Himmelskörpern. Nur auf ihr leben Menschen, Tiere und Pflanzen; nur sie hat riesige Mengen Ozeanwasser und eine mächtige Luftsphäre; nur auf ihr ist ein Großkontinent mit einer mächtigen Granit-Gneis-Schicht entstanden – und vieles andere mehr. Und Rudolf Steiner beschreibt sogar, dass alles mit der Entwicklung des Menschen zusammenhängt.

Wie kann man aber an den festen, kristallinen Gesteinen ihr längst vergangenes Werden ablesen? In einem Granit zum Beispiel zeigt der schwarze Glimmer scharf begrenzte Kristalle, während die weißen Feldspäte und der graue Quarz meist ineinander übergehen. Dieses Nebeneinander der Minerale zeigt, wie sie aus einem flüssigen, dann weichen Zustand nacheinander ihre Kristallgestalt ausgebildet haben. Deutlicher noch ist die Folge der Minerale bei einer Druse zu erkennen, wo sich die Substanzen vom umgebenden Gestein bis in den inneren Hohlraum nacheinander gesondert haben – zum Beispiel der graue Quarz bis klare Bergkristall in seiner spezifischen Gestalt. In dem Mineralbuch* habe ich viele Beispiele dafür in Bilderfolgen dargestellt.

Bedeutsame Übergänge

Auf dieser Grundlage einer Folge von Phänomenen setzt ein zweiter Schritt auf dem goetheanistischen Erkenntnisweg ein. Das wichtigste dabei ist, auf die Übergänge zu achten. Goethe empfiehlt, dass diejenige Ordnung die beste ist, durch welche die einzelnen Phänomene gleichsam ein großes Phänomen werden, dessen Teile sich auf einander beziehen. Bei ihrem Vergleich benötigen wir das, was Goethe exakte sinnliche Fantasie nennt, aber eine solche, die exakt mit der Sinneswelt verbunden bleibt, und nicht beliebige Gestalten entwirft. Wenn wir die inneren Anschauungen mit künstlerischem Sinn verwandeln, werden unsere Vorstellungen beweglich. Goethe hat diesen Weg an den Quarz-Achat-Drusen im Quarzporphyr beschrieben und den Prozess als porphyrartig bezeichnet. Bilder von solchen Sonderungen sind in den kristallinen Gesteinen vielfältig weiter zu beobachten. Da finden sich z. B. Feldspat- oder Granatkörner als kleine, kugelige Körper millionenfach eingelagert, die sich aus dem Umgebenden zuerst abgesondert haben.

 

So gewinnen wir mit einem dritten Schritt das, was Goethe als reines Phänomen, als  Grund- oder Urphänomen bezeichnet, welches zuletzt als Resultat aller Erfahrungen und Versuche dasteht. Und er schreibt weiter, dass dabei der menschliche Geist das Variable bestimmt und das Zufällige ausschließt. Das führt zur lebendigen Übersicht, zum allgemeinen Begriff, in den sich der besondere Fall einordnen lasse. Es wird zur Idee, die Rudolf Steiner als gesättigten Begriff bezeichnet.

Sie kommt dem Menschen aus der Welt des Geistes entgegen und offenbart das Wesenhafte. Man erlebt sie als innere Erfahrung, die wesentlich inhaltvoller ist als ein Gedanken-Modell, welches als Vorstellung aus den Beobachtungen abgeleitet wird. Solche Modelle können auf dem Erkenntnisweg als Möglichkeiten hilfreich sein. Sie wird so real erlebt wie ein Gegenstand der Sinneswelt, so wahr wie ein mathematischer Beweis. Trotzdem bleiben selbst solche Ideen freilassend; sie werden keine Zwangsvorstellungen. Die Wahrnehmungsfähigkeit bezeichnet Goethe als mit dem Auge des Geistes zu sehen; oder an anderer Stelle: man müsse mit den Augen des Leibes und des Geistes zugleich zu sehen gewohnt werden. Wir gelangen damit zu einer Biographie einer Substanz. Sie kann etwas von ihrem Wesen offenbaren, so wie die Biografie eines Menschen uns zu einem Gesamtbild, zu seinem Ich führt. Ein umfassender Begriff bewirkt, dass wir die Phänomene in einem neuen Lichte sehen können, um sie neu zu ordnen und weitere Erfahrungen anzuschließen.

Erringen einer Idee

Damit ist bereits auf einen vierten Schritt hingewiesen, in dem die gewonnene Idee wiederum mit den Phänomenen verglichen und an der Wahrnehmung geprüft wird. Goethe schreibt, dass es nötig ist, wenn wir eine Idee errungen haben, dass wir uns sodann wieder rückwärts der Welt der Erscheinungen zuwenden, die sich in tausendfacher Mannigfaltigkeit bei aller Veränderlichkeit unveränderlich offenbart. Dann eröffnet die Idee einen neuen Zusammenhang, alt Bekanntes erscheint in einem anderen Licht. Es kann ein innerliches Abwägen, ein Geistgespräch entstehen zwischen Anschauen und Denken, Phänomen und Idee, Besonderem und Allgemeinem, wie Goethe beschreibt. Dadurch verwandelt sich für mich sowohl der Begriff, als auch das Phänomen. Zwischen beiden entsteht für mich so etwas wie eine persönliche, freundschaftliche Beziehung, die Gefühl und Willen einbezieht; es bildet sich eine Erfahrung. Wenn die Idee in dieser Gesinnung sachlich dargestellt wird, kann sie auch für andere Menschen, die einen ähnlichen Weg eingeschlagen haben, als evident, als offenkundig erlebbar werden.

Kristall werden ein lebendiger Prozess

Betrachten wir in dieser methodischen Art den Zusammenhang mit dem Menschen, so kann bemerkt werden, dass embryonal auch alle Organe porphyrartig entstehen. Sie gestalten sich aus ihrer undifferenzierten Umgebung so, wie die Quarzdruse aus dem Porphyr. Makrokosmisch ist das in der Vergangenheit derselbe Prozess gewesen, welcher mikrokosmisch den Menschen bildet. Es ist keine Assoziation ähnlicher Bilder, sondern der prinzipiell gleiche Prozess. Er macht darauf aufmerksam, dass auch die kristallinen Gesteine nicht aus einer Schmelze entstanden sind, wie vom Materialismus aus vorausgesetzt wird, sondern aus einem lebendigen, kolloidalen Verhärtungs- und Sonderungsprozess. Die Flüssigkeiten in allen Lebewesen sind in einem solchen kolloidalen Zustand, und die Bilder in den kristallinen Gesteinen weisen ebenso auf solche Werdeprozesse hin. Durch die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners werden auf diesem goetheanistischen Weg die tieferen Zusammenhänge der Gesteinsbildung und der Evolution von Erde und Mensch verständlich.

 

Dankmar Bosse (1940) studierte Geologie, Paläontologie und Mineralogie in Freiberg (Sachsen). Er publizierte drei große Studien: Goethe – die Metamorphose des Granits (Stuttgart 1994), Die gemeinsame Evolution von Erde und Mensch (Stuttgart 2002) und * Die Evolution der Minerale zwischen Kosmos und Erde – Entwurf einer Mineralogie und Kristallografie der lebendigen Erde (Stuttgart 2015). Weitere Hinweise zu diesen Themen finden Sie auf der neuen Website: goetheanismus.eu

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