Grenzen und ihre Übergängigkeit

„… Wir stehen und stemmen uns an unsere Grenzen und reißen ein Unkenntliches herein.“ Rainer Maria Rilke, Winter 1913/14, Paris. Das Inselschiff 11 (1930).

Text und Bild: Norbert Liszt

Menschsein bedeutet leben mit Grenzen und Übergängen. Wir grenzen uns körperlich ab von unserer Umwelt. Auch das seelische Erleben kennt ein Innen und Außen. Die Seele greift fortwährend nach außen und holt sich von dort ihre Objekte, mit denen sie ihre Innenwelt gestaltet. Umgekehrt wirkt sie wieder auf die Außenwelt ein, indem sie ihr Innenleben in Handlungen fließen lässt. Es sind zwei unterschiedliche Welten – die eine physischer, die andere geistiger Art – denen die Seele begegnet, Beide will sie in sich aufnehmen.

Grenzen können unterschiedlich empfunden werden. Die Empfindung des Drinnen- oder Draußen-Seins erzeugt ein Spannungsfeld. Grenzen können Sicherheit geben, reizen zum Übertritt, lassen uns zurückschrecken, können einengen, erfordern Übergänge, wollen erweitert werden und erregen unseren Willen zur Tat … Ist es wünschenswert, ohne Grenzen zu leben? Wohl kaum.

Jedermann kann spüren, dass sein Wesen begrenzt ist. Es gibt Grenzen zwischen Innen und Außen, Grenzen der Aufnahmefähigkeit, Schmerzgrenzen, Grenzen der Leistungsfähigkeit etc. und doch gibt es die Unbegrenztheit auch. Irdisch begrenzt und himmlisch unendlich weit ist unser Wesen. Wir leben im Spannungsfeld beider Zustände. Goethe legt seinem Faust folgende Worte in den Mund:

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,

Die eine will sich von der andern trennen;

Die eine hält, in derber Liebeslust,

Sich an die Welt mit klammernden Organen;

Die andere hebt gewaltsam sich vom Dust

Zu den Gefilden hoher Ahnen.“¹
Die Trennung, aber auch die Wiederverbindung der „beiden Seelen“ müssen wir Menschen ständig vollziehen. Der Geist liebt die Weite, der Körper die Begrenzung. Der Geist im Körper lernt mit Begrenzung zu leben. Vielleicht leidet er an dieser Situation, vielleicht aber kommt er dort zur Ruhe und findet zu sich selbst. In der Ruhe und Beschränkung kann er sich eine neue Welt schaffen, indem er den seelischen Boden dafür bereitet. Das Lernen, ja selbst der geringste Erkenntnisprozess, lebt davon, dass wir eine in uns geschlossene Wesenheit ausbilden, die fähig ist Grenzerfahrungen zu machen. Das Wesenhafte in uns will sich immer wieder über die Grenzen begeben und Unbekanntes in den Seelenraum hereinholen und dort verankern und umschließen.

Wir sind somit Bewohner zweier Welten. Die eine ist physischer, die andere geistiger Natur. Unsere Seele macht in beiden Erfahrungen und lernt sich in beiden zu bewegen. Zwei gegensätzliche Welten treffen also in unserer Seele zusammen und befruchten sich gegenseitig.

Wir wollen in uns selbst einen festen Halt finden und uns gegen feindliche Außenwirkungen schützen. Doch wollen wir uns auch öffnen und uns bereit machen für den Dialog mit unserer Mitwelt. Beides, Begrenzung und Weitung, fordern uns heraus. Wie kann es gelingen, das richtige Maß zu finden? Ist es das Erwachen der eigenen Geistigkeit in unserer Seele? Nur in der Begrenzung, in der Ruhe der Abgeschlossenheit ist dieses Erwachen möglich. Und nur die Geburt der „eigenen“ Geistigkeit, man darf es „Ich“ nennen, kann diese Aufgabe bewältigen. Kein uns von außen lenkender Gott, nur der Gott in uns ist dazu in der Lage. Denn nur er kennt das Leben mit den Gegensätzen Weite, Begrenzung – Endlichkeit und Dauer.

Es ist sicher sehr unterschiedlich, wie sich diese Gegensätze im einzelnen Menschen ausleben. Der Eine wird mehr zu Diesem, der Andere mehr zu Jenem veranlagt sein. Der Eine tendiert zu seelischer Geschlossenheit, der Anderen weitet sich in die Umgebung. Einer gibt dem Geistigen mehr Gewicht, ein Anderer den sinnlich wahrnehmbaren Tatsachen. So ergibt sich eine charakterologische Gestimmtheit, die dem Leben eine bestimmte Färbung und Richtung gibt.

Auch in Gemeinschaften, in Staaten und verschiedenen Weltgebieten, gibt es unterschiedliche Veranlagungen, die Einfluss darauf haben wie sich diese Gegensätze ausleben. Die Kultur eines Landes prägt seine Bewohner. Leider wird auf andersartige Prägungen zu wenig Rücksicht genommen. Die Menschen der diversen Weltgebiete werden gerne über einen Leisten geschlagen, den unterschiedlichen Lebensformen zu wenig Bedeutung gegeben und wenig versucht, sich vorurteilsfrei in sie einzufühlen.

Die Persönlichkeitsprägung im kulturellen und sozialen Gefüge

Die Frage, wie ein möglichst fundierter Zusammenhalt geschaffen werden kann, der mich als Einzelner trägt und fördert, wird in gewissen Gesellschaften besonderes Gewicht haben. Man empfindet die Gemeinschaft als eine große Individualität, der man als Glied angehört. Ohne sie bin ich nicht vollständig. Sie bildet den Boden auf dem ich mein Menschsein bauen kann. In und von der Gemeinschaft lerne ich meinen Platz in der Welt zu finden. Sie gibt mir die Kraft, die mein Menschsein fördert. Diese seelische Gestimmtheit bringt mit sich, dass die Seele nicht so sehr nach innerer Geschlossenheit strebt, vielmehr sucht sie nach Verwandtschaften in der Mitwelt. Der Zwischen- und Umraum, der sich in der Gesellschaft der Mitmenschen, ja der ganzen Mitwelt bildet, scheint bedeutend zu sein. Der Wert des Individuums wird an seinem Beitrag für die Gemeinschaft bemessen³. Diese Daseinsform ist vorwiegend in östlichen Kulturen zu finden. „Gemeinschaft und Weltverbundenheit ist wichtig für mich. Mit Ehrfurcht, Demut und Dankbarkeit erfüllt mich mein Eingebunden-Sein in ein größeres Ganzes, das mir Stütze ist“, bringen diese Menschen zum Ausdruck. Diesen Zusammenhalt sucht man, indem man sein Leben nach religiösen und diversen anderen Glaubenssätzen ausrichtet. Man kann in dieser Lebensweise Nachwirkungen einer altehrwürdigen Lebens- und Weltauffassung, in welcher man das Geistige als die wahre Wirklichkeit und die physischen Tatsachen als Maja, als Abbild dieser geistigen Wirklichkeit ansah, erkennen.

In anderen Gesellschaften neigen die Menschen zu seelischer Geschlossenheit. Sie streben danach, sich eine stabile Individualität zu geben und mit dieser Gestimmtheit den Mitmenschen zu begegnen. Als Einzelner die Gemeinschaft zu prägen und in dieser seine Selbstheit zu behaupten, ist das Vorrangige. Das erfordert Trennung von der Allgemeinheit und Ausbildung der eigenen Individualität. In sich ein festes Zentrum zu bilden, verlangt nach Abgrenzung. In mir soll sich der Weltinhalt vereinen. Ich bin Angelpunkt der Welt. Nur dann bin ich nützlich für die Allgemeinheit, wenn ich meine individuelle Erfahrung und Fähigkeit einbringe. Ich hab zwar im Bewusstsein, dass ich mich nur im Zusammenleben mit anderen entwickeln kann, doch nutze ich das zum Aufbau meiner Selbstheit und bilde eine Welt für mich, mit der Gefahr, dass mich die Selbstsucht übermannt. „Wie kann ich als Individualität in das Gemeinschaftsleben hineinfinden und ihm dienstbar werden?“ wird zu einer drängenden Frage. Ein Mensch, der dieser Lebens- und Weltauffassung zugetan ist, hat die Neigung, das sinnlich Wahrnehmbare als einzige Wirklichkeit zu betrachten. Alles Geistige betrachtet er als Schein, als Abbild der Wirklichkeit, was soweit führen kann, dass er auch das innere Erleben nur als Abbild der Wirklichkeit sieht. Diese „junge“ Lebensweise und Weltanschauung, bei der man die Grenze zwischen Ich und Welt besonders stark empfindet, strebt nach Freiheit. Dabei sind es nicht große Gedankengebäude, sondern zweckorientiertes, situationsbezogenes Denken und Handeln, welchen man zuerkennt, dass sie Freiheit ermöglichen.

Diese Menschen gehen einen Weg, der sie heraushebt aus dem Naturzusammenhang. Häufig wollen sie von geistigen Dingen nichts wissen und empfinden, dass es sie hindere, einen selbstbestimmten Lebensweg zu gehen. Dabei lauern Egoismus, Isolation und materialistische Denkungsart, aber auch die Chance, auf den Weg der Freiheit zu gelangen.

Die  westlichen Gesellschaften leben nach diesen Prinzipien. Sie brachten eine Naturwissenschaft hervor, deren Forschungen sehr erfolgreiche Ergebnisse brachten. Eine Technik und Wirtschaftsweise wurde begründet, die den materiellen Wohlstand gefördert hat. „Was ich für meinen materiellen Wohlstand tun muss“, ist in der Werteskala hoch oben angesiedelt. Ich muss erst als Einzelner mein Glück finden, muss materiell abgesichert sein und dann kann ich mich um meine Mitmenschen und meine Mitwelt kümmern, wird sich so mancher sagen.

Idealerweise ist es eine Übergangsphase, die in eine neue Lebensart mündet, die darin besteht, mit einer freien Geistigkeit, aus eigener Initiative, seinen Beitrag zum Menschheitsfortschritt zu leisten. Schiller nennt es „das Erhabene im Menschen“. Diese freie Geistigkeit kann uns zu der Einsicht führen, dass alle Mitmenschen diese Anlagen in sich tragen (in jedem Menschen lebt im Verborgenen das Menschheitsideal). Von der Selbstheit aus baut der Mensch die Brücke zur Mitwelt. „Ich bin wichtig für die Gemeinschaft!“ könnte das Bekenntnis dieser Menschen lauten.

Diese beiden Bewusstseins- und Kuturformen wurden sehr pointiert dargestellt. Ich spreche hier von grundsätzlichen Tendenzen. Es gibt natürlich alle möglichen Schattierungen und Übergänge von dem einen zum anderen, auch alle möglichen Abirrungen in beiden Lebensentwürfen. Weltflucht und Weltsucht im Sinne der obigen Goetheworte sind Hindernisse auf dem Weg zum vollen Menschsein.

Übergängigkeit

Haben beide Wege heute noch ihre Berechtigung; sind beide zeitgemäß oder ist der Entwicklungsgang der westlichen Welt der einzig gangbare? Gibt es eine Übergangsform, die es möglich macht, die Essenz beider Wege organisch zu verbinden? Wenn ja, finden wir sie in Europa?

Die Erkenntnis, wie ich selbst im Weltgeschehen drinnen stehe, wird dabei von besonderer Bedeutung sein. Denn: „Im Erkennen vollzieht sich, was sich in der Außenwelt nirgends vollzieht: Das Weltgeschehen stellt sich selbst sein geistiges Wesen, gegenüber. Ewig wäre dieses Weltgeschehen nur eine Halbheit, wenn es zu dieser Gegenüberstellung nicht käme“². Das Weltgeschehen will im Erkenntnisprozess seine individuelle (unteilbare) Wesenheit verwirklichen. Erkennen in diesem Sinne bedeutet: Der Weltinhalt lebt nicht in uns.  Er fließt auch nicht einfach in uns hinein. Wir müssen unseren Erkenntniswillen aktivieren. Idealerweise sind wir Organ des Weltgeschehens, das sich sich selbst gegenüberstellt, um über sich selbst unvoreingenommen urteilen zu können und um dadurch seinen Daseinswert zu erhöhen. Der Übergang und Zwischenraum von Selbstheit und Allheit, von innerer Geschlossenheit und Weltoffenheit ist der Ort wo Entwicklung, Begegnung und Verständnis für das andere Denken und Wollen möglich ist.

Wir sollten verstehen lernen, welche Entwicklungsgesetzmäßigkeiten diverse Gesellschaften geprägt und welche ihre Kultur bestimmenden Entwicklungsschritte sie vollzogen haben. Eine dialogische Verständigung wäre wünschenswert. Sie kann aber nur glücken, wenn es ein Bemühen um ein Verständnis und Anerkenntnis der Andersartigkeit gibt. Das ist natürlich eine schwere Aufgabe. An Würde sind alle Menschen gleich, aber unterschiedlich sind ihre Lebensformen und Lebenswege.

¹ Faust I, Vers 1112 1117

² Rudolf Steiner, Die Mystik, GA 7

³ Johannes Mosmann, https://akademieintegra.wordpress.com/2014/04/17/sonne-und-mond-hintergrunde-und-wege-im-ost-west-konflikt-um-die-ukraine/

Quellen: Rudolf Steiner, Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeiten, GA 83

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