Individualität und Gemeinschaft

Text: Norbert Liszt, Bild: Volksschule Halirschgasse. Dezember 2018

Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reiches (des dynamischen Staates). Hier darf weder das Einzelne mit dem Ganzen, noch das Ganze mit dem Einzelnen streiten. Nicht weil das Eine nachgibt, darf das andere mächtig sein: hier darf es nur Sieger, aber keine Besiegten geben.   Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 27. Brief

Gemeinschaften werden nach unterschiedlichen Motiven gebildet oder sie ergeben sich durch Geburt, zufällig, zwangsläufig oder gewohnheitsmäßig. Soll in einer Gemeinschaft Freiheit herrschen, braucht sie Mitglieder, die zur Selbstbestimmung fähig sind; Menschen, die sich selbst Persönlichkeit geben und nicht nur ererbte und überkommene Anlagen ausleben. Nicht was sie allein durch Geburt sind, was sie selbst aus sich machen, ist wesentlich für Verbindungen, in denen Freiheit herrschen soll. „Ich selbst will einen neuen Menschen in meiner Seele auf die Welt bringen. Ich will Schöpfer meiner selbst sein und als solcher meinen Mitmenschen begegnen!“ lautet ihr Bestreben.

Was aber gibt uns die Kraft zur Verwirklichung der Selbstschöpfung? Keine äußere Macht ist dazu fähig. Es muss eine Ursprungskraft geben, die wir in uns erwecken können. Man kann es als Kindheitskraft bezeichnen. Im Matthäusevangelium (18,3/5) heißt es: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ – und „Wer das Kind in sich belebt, der findet in dem Kinde mich“. Unter Umkehr verstehe ich, dass man die gewohnten Wege nicht einfach weitergeht und sich fragt: „Ist das der Weg, der mir entspricht? Gehe ich „meinen Weg“ oder bin ich nur Mitläufer?“ Nicht abstrakte Lehrsätze und überkommenes Wissen, sondern lebendige Ideen sind die Substanzen, die unsere Kindheitskräfte nähren.

Das Besondere am Kindsein ist, dass Kinder anders erleben als Erwachsene. Ihre Offenheit ermöglicht, dass sich die Welt in sie hineinbaut. Andererseits ragen sie auch in die Welt hinaus. Kinder gehen auf in der Welt, sie gehört zu ihnen. Welche Umwelt die Erwachsenen den Kindern bieten, wird sich in ihr Wesen einprägen.

Was sich beim Kind noch im Unterbewussten vollzieht, das muss sich der Erwachsene bewusst erobern. Er kann sich selbst das Kindsein geben, um sich kindlich staunend, ohne vorschnelles Urteil, von den Weltvorgängen beeindrucken zu lassen und sich aus eigener Initiative in das Weltgeschehen einzuleben. „Welt, wie bist du und was hast du mit mir zu tun?“ Das tief empfundene Bedürfnis, Antworten auf diese Fragen zu finden, kann das Kind in ihm beleben.

Die gleichen Fragen können wir in Bezug auf unsere Mitmenschen stellen: „Wie bist du, Mitmensch und was haben wir gemein?“ Diese Frage kann der Anfang der Suche nach dem verborgenen Göttlichen in allen anderen Menschen sein und die Hinwendung zu diesem Göttlichen kann ein neues, auf Freiheit gestimmtes religiöses und soziales Verständnis begründen. Soll dieses Verständnis Lebenswirklichkeit werden, braucht es Gleichgesinnte, die es auf die Welt bringen und einen sozialen Organismus schaffen, indem sie sich selbstbestimmt zu Organen machen, die einem solchen Organismus dienen wollen. Bestenfalls fördert der einzelne Mensch die Gemeinschaft durch seine Fähigkeiten. Umgekehrt fördert die Gemeinschaft, aus der er das Beste für sich entnehmen kann, den Einzelnen – „einer für alle, alle für einen“. Er findet Befriedigung am Mitwirken bei der Verwirklichung der gemeinsamen Ziele. Das Wohl dieses Organismus ist ihm Bedürfnis, das so weit reichen kann, dass er keine Ruhe hat, wenn andere leiden müssen und unglücklich sind. Das Idealbild sind Verbindungen, deren Angehörige aus freiem Willen handeln. Gemeinschaften, die nach Regeln funktionieren, die sich die einzelnen Mitglieder selber geben, untereinander nach diesen Regeln Vereinbarungen treffen und danach handeln. Angestrebtes Ziel ist die Vereinigung von Individualitäten.

Individualität und Gemeinschaft, wie geht das zusammen?

Üblicherweise meinen wir mit Individualität-Sein die Möglichkeit, sich aus einem Zusammenhang herausnehmen zu können und sich ihm gegenüberzustellen, um nicht von außen bestimmt zu werden. Wer aber ist fähig zu diesem Schritt? Wohl nur jemand, der Selbstbewusstsein hat und damit die Fähigkeit besitzt, bewusst zu entscheiden, wenn äußere Bedingungen ihm Entscheidungen abverlangen. Zur Selbstbestimmung ist aber nur jemand fähig, der Ursprung seiner selbst sein kann. Ursprung seiner selbst kann wiederum nur ein Wesen sein, das universelle Anlagen, das Menschheitliche, in sich trägt. Schiller drückt das so aus: „Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt der Anlage und Bestimmung nach einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist.“¹ Wenn sich Menschen mit diesem Bewusstsein begegnen, ist das eine gute Voraussetzung für ein organisches Miteinander. Idealerweise teilt sich der Einzelne selbst die Funktion zu, durch die er einer gemeinsamen Sache am besten dienen kann. Das erlaubt, Individualität zu bleiben, obwohl man Teil eines Ganzen ist. Individualität-Sein bedeutet in diesem Sinne: Im Menschen keimt etwas Unteilbares, Ganzes. Mensch und Welt gehören zusammen und bilden ein Ganzes, welches im konkreten Leben zur Reife gebracht werden kann.

Was so ideal klingt, ist schwer zu verwirklichen. Wie ist die Situation heute?

Wie sieht es mit den dargestellten Idealen aus, wenn man die bekannten Gemeinschaftsgebilde, wie Familien, Partnerschaften, Schulen, Vereine, Parteien, soziale Einrichtungen, Arbeitsgemeinschaften u.v.m betrachtet? In vielen Dingen sind wir weit entfernt von diesen Idealen.

Man findet Arbeitsverhältnisse, in denen Menschen wie Maschinen agieren, weshalb heute schon viele Arbeitsprozesse vom Menschen auf Maschinen übergehen (Roboter, digitalisierte Steuerungssysteme, 3d-Drucker …). Industrie 4.0 nennt sich das Zukunftsprojekt zur umfassenden Digitalisierung der industriellen Produktion. „Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte kommunizieren und kooperieren in der Industrie 4.0 direkt miteinander. Durch die Vernetzung soll es möglich werden, nicht mehr nur einen Produktionsschritt, sondern eine ganze Wertschöpfungskette zu optimieren“ (Zitat Wikipedia). Der Mensch wird in diese mechanisierte Kette eingespannt. Der arbeitende Mensch ist nur mehr ein Produktionsfaktor, ohne kreativem Spielraum. Die Arbeit wird zur lästigen Pflicht, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das Leben beginnt nach der Arbeit, worüber sich die Freizeitindustrie besonders freut. Diese Formen des Automatismus und der Gleichschaltung von diversen Abläufen greifen immer mehr über auf alle unsere Lebensverhältnisse.

Allerdings meinen manche Zukunftsforscher, dass wir uns in einer Übergangsphase befinden. In Zukunft werde der Mensch durch die Maschinen befreit sein von den weitgehend mechanischen Abläufen. Er könne sich dann anderen Tätigkeiten widmen, die er gerne ausführe und die seinem Wesen angemessen seien. Doch von diesem Übergang ist in der gegenwärtigen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik noch wenig zu hören.

Wie kommen wir zu einem Verständnis für die soziale Not unserer Zeit? Können wir ein Empfindungsvermögen für wahre Menschlichkeit entwickeln und ergründen, was deren Entfaltung im Weg steht? In manchen Lebensbereichen dämmert das oben beschriebene Gemeinschaftsideal schon auf und drängt nach Verwirklichung. Menschen schließen sich aus freiem Willen zu Kooperativen zusammen. Beispiele sind: Solidarische Landwirtschaft, Betriebe mit Mitarbeiterbeteiligung, ressourcenschonendes Wirtschaften, Entwicklungshilfe, soziale Kunst,  menschengemäße Pädagogik etc.

Es gibt das Bemühen, die heutigen sozialen Probleme zu lösen. Aber leider ist Vieles nur Oberflächenkosmetik und dringt nicht in die Tiefe der Problematik. In diese Tiefe gelangt man nicht allein durch das Erfassen und Bearbeiten der sinnlich wahrnehmbaren Tatsachen. Was aber klärt unseren Blick auf die seelisch-geistigen Hintergründe, in denen sich die Wurzeln der Probleme befinden? Vertrauen wir dem Geistes-Kind in uns noch nicht genügend? Meinen wir, dass es noch zu klein ist, um uns klare Sicht und Orientierung zu geben und suchen deshalb nach anderen Wegweisern?

¹ Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 4. Brief

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