Kindheit? heute…

Lass dir, dass Kindheit war, diese namenlose 
Treue der Himmlischen, nicht widerrufen vom Schicksal,
selbst den Gefangenen noch, der finster im Kerker verdirbt,
hat sie heimlich versorgt bis ans Ende. Denn zeitlos
hält sie das Herz….[1]

Text: Tobias Richter

Kindheit – so wird in der Entwicklungspsychologie vielfach beschrieben – ist mehr ein kultureller, sozialer Begriff als ein biologischer. Nach dem Neugeborenen-, Säuglings- und Kleinkindalter finden wir weitere Gliederungen in frühe, mittlere und späte Kindheit, die mit dem Eintritt ins Jugendalter endet. Diese differenzierenden Beschreibungen markieren in dieser ungefähr 12-14 Jahre währenden Entwicklungszeit unterschiedliche Arten und Formen der Welt-, Sozial- und Selbsterfahrung. Phasen großer Offenheit, der Neugier, Sensibilität, Lernbereitschaft, des Bewegungs- und Schaffensdranges lassen sich ebenso beobachten und beschreiben wie Phasen des Rückzuges, der Ängstlichkeit, des Trotzes. Und es sind nun gerade die erstgenannten Fähigkeiten, welche Erziehungswissenschaftler im Blick haben, wenn sie das Heer der PädagogInnen aufrufen, diese durch besondere Aufnahmebereitschaft geprägte Entwicklungszeit in Bezug auf das intentionale Lernen ja nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.

1987 schrieb der amerikanische Professor für Media-Ecology Neil Postman sein alarmierendes Buch mit dem Titel Das Verschwinden der Kindheit[2]. Darin weist er auf die Vertreibung der Kinder aus ihren Lebensräumen hin, wobei alles Geheimnisvolle,  alles phantasievoll Gestaltbare, alles im freien Spiel Erfahrbare  durch zweckrationale und ressourcenschürfende Kolonialisierung verschwindet. (Dazu gehören die Vorverlegung des Einschulungsalters ebenso wie Benotung ab der Kindergartenzeit und die Mediatisierung ab dem frühesten Alter…)

Bereits vierzehn Jahre früher hatte sich Michael Ende mit seinem inzwischen zum Klassiker gewordenen Märchen-Roman Momo[3] direkt an die Betroffenen, die Kinder gewendet. Er erzählt darin, wie es den „grauen Herren“ fast gelungen wäre, alle Zeit in Geld, jeden freien Platz in eine Wohnsiedlung zu verwandeln und alle Mitmenschlichkeit durch Kälte ersterben zu lassen… Momo, das Kind ist es, das als Einziges Verwandlung und Belebung bewirken konnte – und das nur noch unter Lebensgefahr.

Rilke benennt in seinem Gedichtfragment, dessen Anfang diesen Artikel einleitet, genau diese Kraft über die Momo verfügt – eröffnet aber einen viel größeren Zeitraum, als den oben mit Kindheit definierten. Bis zum letzten Atemzug kann Kindheit währen  und dem Menschen noch immer ihre Werdeluft schenken. (Das lässt Goethe auch seinen Faust erfahren, der zum Äußersten entschlossen, schon den Giftbecher angesetzt hat: Osterglocken hindern ihn daran – Osterglocken, die seine Kindheit wachrufen und ihn zurück ins Leben führen.)

Im Fortgang des Gedichtes klingt auch all das oben Skizzierte an:

Nicht, dass sie harmlos sei. Der behübschende Irrtum, 
der sie verschürzt und berüscht, hat nur vergänglich getäuscht.
Nicht ist sie sichrer als wir und niemals geschonter;
keiner der Göttlichen wiegt ihr Gewicht auf…

Also schonungsbedürftig und zugleich von höchster Gewichtigkeit, sei sie – die Kindheit. Aus den oben genannten Propria der Kindheit möchte ich ein Gewichtiges herausgreifen: die Bewegung. Bewegung ist es, die das Pendel zwischen äußerer wie innerer Tätigkeit immer wieder impulsiert und die als Phantasietätigkeit Gewordenes umwandelt und Neues schafft.

Dabei stellt sich die Frage, wer in uns, welcher Teil unseres Wesens es ist, der Bewegung als sein Lebens- und Entwicklungselement nutzen möchte bzw. nutzen muss? Im weiteren Verlauf des Gedichtes nähert sich Rilke einer Antwort auf diese Frage an:

Wer darf denn? 
Ich!
— Welches Ich?
Ich, Mutter, ich darf. Ich war Vor-Welt.
Mir hats die Erde vertraut, wie sie’s treibt mit dem Keim,
dass er heil sei.

Rudolf Steiner führt vor den künftigen Waldorflehrern aus, dass das Ich „die jüngste Bildung unserer Evolution“[4] sei, und (wie ein Kind) des Schutzes, der Behütung bedürfe, sich aber in Bewegung aktualisiert.[5]

Der blinde französische Philosoph Jacques Lusseyran erlebte in der Zeit, die er im Konzentrationslager Buchenwald verbringen musste bei seinen mitinhaftierten Freunden aus der Résistance, dass das Überleben einzig und allein von den „Bewegungen des Ichs“ abhängt, wenn einem alle physischen Identifikations- oder Statusmerkmale genommen sind. Seiner Erfahrung nach ist unser Ich leicht vergänglich  und hat „gewisse Wachstumsbedingungen. Es ernährt sich ausschließlich nur von den Bewegungen, die es selbst macht. Solche, die andere an seiner Stelle machen, sind ihm nicht nur nicht Hilfen, sondern schwächen es nur. Hat es nicht aus eigenem Antrieb, den halben Weg zu den Dingen gemacht, so stoßen diese es zurück, schränken es ein und ruhen nicht, bis es das Feld räumt oder stirbt. … Es herrscht Krieg gegen das Ich. Darüber dürfen wir uns keinen Augenblick hinwegtäuschen.“[6]

Nochmals zurück zu Neil Postman und Michael Ende. Beide richteten den Blick auf die Verfügbarkeit des Kindes, verfügbar deswegen, weil es immer weniger inneren und äußeren Bewegungsraum findet, worin es sich, worin es sein Ich aktualisieren kann.

Pädagogiken, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Lernen aus und in Bewegung zu ermöglichen, die statt durchgeplanter Schulhöfe „Gstettn“ als Lebens- und Gestaltungsräume anbieten, stellen im Sinne Lusseyrans Kampfansagen gegen das Verschwinden der Kindheit dar, indem sie das tätige, schaffende Ich propagieren.

[1] R. M. Rilke: Letzte Gedichte und Fragmentarisches (1910-1926), Frankfurt/Main, 1995

[2] N. Postman: Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt/Main 1987

[3] M. Ende: Momo,  Stuttgart-Wien 1973

[4] R. Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293, S. 98, Dornach 1992

[5] A. a. O: S. 162f

[6] J. Lusseyran: Gegen die Verschmutzung des Ich, S, 12 ff, Stuttgart 1971

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