Reichtum und Reife

Text und Grafik: Wolfgang Schaffer, Wien. Oktober 2019

Reichtum der Seele schafft sich Raum mitten zwischen Sinnensucht und Sinnenflucht auf dem Weg von der Idee zum Ideal.

Es gibt bekanntlich verschiedene Möglichkeiten, Reichtum zu messen. Gemeinhin ist es der Besitz von «Grund und Boden», der einem einzelnen Menschen zu anerkanntem Reichtum verhilft. In den Zeiten wirtschaftlichen Wandels werden die Mittel des immer beweglichen, gleichsam flüssigen Zahlenwertes auf dem Kontostand gerne gegen die «festen» Güter Grund und Boden, Häuser oder Wohnungen eingetauscht. Mit dem individuellen Besitz von planetarischer Erde ist plötzlich der Mangel an allgemeiner Verfügbarkeit das Kriterium von Reichtum geworden. Alle anderen Menschen verzichten ja mit der Akzeptanz von Privatbesitz an Grund und Boden notgedrungen auf ihre eigenen Ansprüche diesem Teil der Erde gegenüber.

Ein anderes wesentliches Kriterium zur Bestimmung von Reichtum ist der Grad an menschlicher Bedürftigkeit, die mit einer wertvollen Sache gestillt werden kann. Wasser zum Beispiel ist absolut notwendig für die Erhaltung des Lebens auf der Erde. Es sollte somit als kostbares Gut behandelt werden. Da es aber in sehr großen Mengen auf der Erde vorkommt, verliert es oft seinen tatsächliche Wert. Es wird sogar maßlos verschwendet in den Teilen der Welt, wo es unbegrenzt vorhanden scheint. Der Wert eines Gutes ist also einerseits von seiner Eigenschaft bestimmt, vorhandene Bedürfnisse zu befriedigen und andererseits auch von seiner allgemeinen Verfügbarkeit.

Ein drittes mögliches Bestimmungsmerkmal von Reichtum ist der Entwicklungsgrad, in dem sich ein bestimmter Zusammenhang befindet. So kann man zum Beispiel bei den Früchten, die als Nahrung dienen aus dem Reifegrad, in dem Sie sich befinden, ihre Wertigkeit erschließen. Erst mit der vollen Reife entfalten sie die ganze Fülle ihrer Sättigungskraft. Werden Äpfel zu früh gegessen, stören sie den Stoffwechsel von Menschen und Tieren eher, als dass sie ihnen die Lebenskraft vermitteln, die sie in sich tragen. Die Erde selbst ist in ihrer Beschaffenheit als Himmelskörper offensichtlich ganz einzigartig im bisher bekannten Universum. Zwar gibt es die Elemente, aus denen sie besteht, auch auf anderen Planeten; die ganz spezielle Konstellation von Wärme, Licht, Luft, Wasser und festen Stoffen macht allerdings unsere Heimat Erde in ihrer Existenz zu einem unschätzbaren, unvergleichlich großen Wert. Sie ist und bleibt für alle Lebewesen und die Menschheit das höchste verfügbare Gut.

Wenn festgelegt ist, was unter Reichtum zu verstehen ist, ergibt sich daraus unmittelbar die Frage, wie der vorhandene Reichtum möglichst gerecht unter allen Bedürftigen aufgeteilt werden kann. In unserem Rechtssystem ist diese Teilungsfrage an die Begriffe Besitz und Eigentum geknüpft. Jeder erwachsene Mensch kann prinzipiell unbegrenzt viel Reichtum besitzen, solange er sich bei dem Erwerb seiner Güter im Rahmen der gültigen Rechtsordnung bewegt. Wenn es sich um den Erhalt von Privateigentum handelt, übernimmt der Staat sogar den Schutz dieses Eigentums vor unberechtigten Zugriffen. Dazu wird auch die Anwendung staatlicher Gewalt gebilligt. Nach außen hin zeigt sich diese Gewalt als die militärische Option, die Grenzen eines Staates zu verteidigen. Der Grund für diese Vehemenz liegt in der gewichtigen Tatsache, dass durch die dauerhafte Zuordnung der Lebensgüter auch ein Freiraum für persönliche Entwicklung und Verantwortung entsteht. Eine beispiellose Steigerung der Produktivität ist eine der Folgen dieser gesicherten Verhältnisse. Problematisch wird die Situation nur, wenn die Mehrzahl der Mitglieder einer Gesellschaft von der Erlangung ihres Anteils an der Erde deshalb ausgeschlossen bleiben, weil sie  nicht in den Erbstrom der aktuell Besitzenden eintreten können und die aus ihrer Erwerbsarbeit gewonnenen Mittel niemals ausreichen, um sich selber Grundbesitz zu erwerben.

Grundbuch des Herzens

Herz und Sinn

An dem Beispiel der rigorosen Ordnung der öffentlichen Eigentumsverhältnisse in dem sogenannten «Grundbuch» lassen sich auch sinngemäße Perspektiven für ein inneres Leben gewinnen. Es könnte doch auch etwas geben, was den Namen «Grundbuch des Herzens» trägt. Das Land und den Grund, die dort eingetragen werden, gibt es noch gar nicht vor dem Augenblick, in dem die Eintragung geschieht! Es wird darin ein Kosmos der Liebe aufgezeichnet, deren Anteil wir hier auf der Erde begründen. Wie groß der Landbesitz dort sein wird, hängt von dem Ausmaß an Liebe ab, die wir wagten, schon hier und jetzt auch wirklich selbstlos in die Tat zu setzen. Dabei kommt es gar nicht auf besonders große Heldentaten im äußerlichen Sinn an. Ein liebevoller Blick, der voll Güte und Mitgefühl in die Welt gesendet wird, weitet dann den Grundbesitz, den wir uns damit selber anvertrauen wollen. Alles was wir seinem wahren Wesen nach wirklich kennen und von Herzen lieben lernen, wird uns in Zukunft angehören. Da sich geteilte Liebe erfahrungsgemäß nicht verkleinert und dadurch zur Mangelware wird, sondern sich umgekehrt ganz unbegrenzt vervielfacht, braucht es auch kein besonderes Verfahren zur Wahrung der Gerechtigkeit. Jeder erntet das, was er selbst an Gedanken, Gefühlen und Taten im Laufe seines Lebens ausgesät hat. Wirklich arm sind dann nur jene Weltenbürger, die zwar wussten, dass ihr «Grundbuch des Herzens» jederzeit offen steht um Eintragungen aufzunehmen, und die dazu doch nichts taten. Denn mit dem letzten Atemzug auf Erden werden beide Bücher endgültig geschlossen. Besitz und Eigentum im irdischen Sinn verlieren damit jegliche Bedeutung. Reife und Reichtum eines Lebens zeigen sich dann an dem Sinn, den ein Mensch seiner Existenz geben konnte. Dem Sprachgeist ist es zu danken, dass dem Ausdruck «Reichtum» auch die Tätigkeit des Erreichens zugeordnet werden kann. Eine reife Frucht nimmt nicht mehr zu, sie wird für andere genießbar. Wer sein Ziel in diesem Sinn erreicht, begründet daran wahren Reichtum! Dann schließen sich Reichtum und Reife auch im materiellen Sinn keineswegs mehr aus.

Die geheime Tür…

Es gibt in dem Schulungsbuch Rudolf Steiners «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» ein kleines, eher unscheinbares Kapitel zu dem Thema «Innerer Reichtum». Darin wird beschrieben, wie sich die menschliche Seele im alltäglichen Leben erst einen Weg  bahnen muss, um die ganze Fülle der sinnlich erlebbaren Eindrücke auch mitzunehmen in die geistige Welt. Dieser etwas geheime, und doch so einfach beschriebene «Weg der Mitte» liegt genau zwischen den beiden großen Verführungen, denen der Mensch auf seinem Lebensweg erliegen kann. Die eine Verirrung besteht darin, sich vor dem sinnlichen Genuss soweit als möglich zu verschließen, um dadurch der Möglichkeit zur Sinnensucht zu entgehen. Mit diesem Schritt in die Askese verliert man aber auch den positiven Zusammenhang mit der Welt und wird von ihr gleichsam ausgeschieden.

Die andere Verführung besteht darin, möglichst jedem lustverheißenden Genuss nachzujagen um schließlich zu bemerken, dass die jeweilig zurückbleibende «Leere»  nach dem Verklingen des Genusses nur umso schwerer wiegt. Das bestimmende Motiv zur weiteren Weltbegegnung liegt in diesem Fall dann zunehmend in der möglichst raschen Überbrückung der als mangelhaft empfundenen Zeiten, die ohne lusterfüllte Sinneseindrücke verlaufen.

Zwischen diesen beiden Möglichkeiten von Sinnenflucht und Sinnensucht liegt der steile Pfad und die schmale Gradwanderung, die darin besteht, sich der Welt durch Bejahung ihrer Sinnlichkeit durchaus im Genuss zu öffnen. Entscheidend und weltverwandelnd ist dann allerdings der Mut und die Opferfeudigkeit, den Genuss im Augenblick seiner höchsten Intensität durch einen bewussten Verzicht auf weiteren Genuss in Erkenntnis zu verwandeln. Darin besteht der wahre Reichtum und der ewige Schatz im Himmel, den es auf der Erde zu erringen gilt! Wird diese kleine «geheime» Tür des gewinnenden Verzichts als inneres Tor zum Aufstieg nicht geöffnet, verklingt die Welt mit all ihren Genüssen im Wesentlichen unerkannt und damit ungenüzt. Der Weg zum wahren Reichtum besteht somit darin, Genuss im Sinnesleben durch den aktiven Verzicht im Verlaufe des Genießens selbstbewusst in die schon immer ursprünglich darin verborgene Lebenskraft zurückzuverwandeln.

Die von Steiner entwickelte Formel, die den Weg des  Reichtums in der reifen Mitte bezeichnet, lautet: «Jede Idee, die dir nicht zum Ideal wird, ertötet in deiner Seele eine Kraft; jede Idee, die aber zum Ideal wird, erschafft in dir Lebenskräfte»

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