Rudolf Steiner – Der Einzelne und das All

Text: Wolfgang Schaffer

Sieht man nach hundert Jahren auf das Leben eines Menschen zurück, so findet man normalerweise keine Angehörigen mehr, die als Zeitgenossen des betreffenden Menschen über ihn aus persönlicher Erinnerung etwas berichten könnten. Alles, was von diesem Menschen gewusst werden kann, bezieht sich dann auf die Spuren, die er während seiner Lebenszeit in der Welt hinterlassen hat. Diese Spuren sind eingeschrieben in die Welt und ergeben in ihrer Gesamtheit ein Abbild des Menschen, der sie verursacht hat.

Unsterblichkeit

Rudolf Steiner hat schon sehr früh einen Maßstab gesetzt für den Anteil, den sich seiner Ansicht nach ein Mensch am unvergänglichen Leben erwerben kann. In der Zeit zwischen seinem 25. und 28. Lebensjahr hat er ein Glaubensbekenntnis verfasst, in dem er beschreibt, in welchem Verhältnis der einzelne Mensch zur ganzen Welt steht. Sein «Credo – der Einzelne und das All» bezieht sich auf das Wirken der Ideenwelt in dem uns wahrnehmbaren Universum. Alles, was darin lebt, leitet sein Leben aus dem Geist dieser Ideenwelt ab. Alles, was nicht in einem lebensvollen Zusammenhang mit diesem Ursprung steht, fällt in der Vereinzelung vom Ganzen ab und sinkt in Wesenlosigkeit zurück. Es gibt vier Bereiche im Menschenleben, durch die ein Mensch aus dem natürlich gegebenen Zustand seiner körperlichen Vergänglichkeit in das permanente Überdauern eines geistigen Daseins hinübertreten kann. Es sind dies die Erkenntnis, die Kunst, die Religion und die liebevolle Hingabe an die Persönlichkeit eines Menschen im Geiste. Wer sich in wenigstens eine dieser Sphären vertieft, überwindet durch sein Leben darin die Begrenztheit des naturgegebenen eigenen Selbst und erlangt dabei ein unvergängliches Sein.

Hingabe

Hingabe an das Universum ist der Schlüssel zur Unsterblichkeit in allen vier Bereichen. Diese Hingabe an das All geschieht durch die Gedanken im Erkennen, durch die Anschauung in der Kunst, durch das Gemüt in der Religion und durch alle Geisteskräfte in der Liebe zu einem uns liebenswürdig erscheinenden Ziel unserer Zuwendung. Diese Hingabe an das All hat als Grundvoraussetzung die Überwindung der natürlich gegebenen Egoität. Rudolf Steiner formuliert das in seinem Credo ganz radikal als die «Ertötung der Selbstheit» die zur Unsterblichkeit führt.

«Wir sind in dem Maße unsterblich, in welchem Maße wir in uns die Selbstheit ersterben lassen. Das an uns Sterbliche ist die Selbstheit. Dies ist der wahre Sinn des Ausspruches: Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt! Das heißt, wer nicht die Selbstheit in sich aufhören lässt während der Zeit seines Lebens, der hat keinen Teil an dem allgemeinen Leben, das unsterblich ist, der ist nie dagewesen, hat kein wahrhaftes Sein gehabt.»1 Diese innerste Vereinigung mit dem Geist ist auch das Ziel unseres Erdenlebens. Wer in sich nicht den Zugang zum Geist findet, fällt ab vom Baum des Lebens wie ein erstorbenes Blatt. Sieht man auf den Lebensweg des Menschen Rudolf Joseph Lorenz Steiner, der am 27.2. 1861 in Donije Kraljevec an der heutigen kroatisch-ungarischen Grenze offiziell beginnt und am 30.3. 1925 in Dornach bei Basel in der Schweiz endet, mit der Frage, was ihn selbst zeitlos überdauert, ergibt sich ein gewaltiges Panorama.

Erkenntnis

Seine Hingabe an die Welt durch Erkenntnis manifestiert sich nach genau hundert Jahren seit seinem Tod in der vollständigen Herausgabe sämtlicher Werke im Rahmen der Gesamtausgabe. In ca. 450 einzelnen Bänden sind seine Werke nun für die Nachwelt bereitgestellt. Sowohl die editorische Leistung als natürlich noch viel mehr die zugrundeliegende schöpferische Kraft sind beispiellos in der Geistesgeschichte der Menschheit. Bezeichnenderweise betrifft die erste Buchveröffentlichung Rudolf Steiners mit dem Thema «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltauffassung» gerade die Untersuchung des Erkenntnisprozesses und des die Erkenntnis tragenden Denkens. Diese Hingabe an das Universum in Gedanken führte den Menschen Rudolf Steiner in die urbildhafte Situation, die Welt, die uns körperlich umgibt, auch wieder in ihrer Zusammengehörigkeit mit dem Geist zu erkennen, aus dem sie ursprünglich geschaffen wurde. Dieser Erkenntnisweg schließt die Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft ausdrücklich ein. Die bewusst erfahrene Realität der geistigen Welt im leibbefreiten Denken ist die Grunderfahrung der von Rudolf Steiner begründeten Geisteswissenschaft. Aus der Idee und dem Geist ist die materielle Welt entstanden. Wenn wir den Vollzug eines Erkenntnisvorganges als Vereinigung einer Wahrnehmung als «Erscheinung für die Sinne» mit dem ihr entsprechenden Begriff durchschauen, sind wir uns des dadurch neu geschaffenen Zusammenhanges mit der geistigen Welt gewiss. Eine solche Erkenntnis ist nicht die Kopie eines schon immer irgendwo vorhandenen Wahrheitsgehaltes, sondern ein originär geschaffener Weltinhalt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass mit der in dem Jahr 2025 abgeschlossenen Herausgabe des literarisch erfassbaren Gesamtwerkes Rudolf Steiners die Wirkkraft seines auf diese Weise zeitlos gewordenen Lebens erst am Anfang steht.

Kunst

Sieht man auf die Kunst als zweite Sphäre durch die man als Mensch die Unvergänglichkeit erlangen kann, erweitert sich die Wirkung, die von Rudolf Steiner nach hundert Jahren ausgeht, um eine zusätzliche Stufe. Das von ihm entworfene «Goetheanum» steht als erster Monumentalbau in Stahl und Beton auf europäischem Boden mittlerweile unter Denkmalschutz. Es ist in dem kleinen Örtchen Dornach bei Basel in der Schweiz zu finden. Rudolf Steiner hat diesen modernen Mysterientempel nur mehr als ein äußeres Modell gestalten können. Wenige Jahre nach seinem Tod am 30. März 1925 wurde das Goetheanum als «Haus des Wortes» mit einer Bühnenbreite von knapp 25 Metern und einem Fassungsvermögen von 1000 Menschen eröffnet. Sucht man Vergleiche an architektonischer Ausdruckskraft und künstlerischer Originalität im damaligen Zeitgeschehen bleibt man mit dem Goetheanum staunend allein. In Malerei, Bildhauerei, Dramatischer Kunst, Dichtkunst, in der Waldorfpädagogik als Erziehungskunst und in der Bewegungskunst Eurythmie – überall entstehen durch die Hand und durch die Angaben Rudolf Steiners epochemachende Impulse, die auch nach hundert Jahren immer wieder von jeder nachfolgenden Generation in der Anschauung aufgegriffen und neu belebt werden.

Religion

Sucht man die Hingabe des Menschen Rudolf Steiner an das Universum im Gemüt als Religion, so entdeckt man in der energischen Hinwendung zu Achtung, Bewunderung, Verehrung der Wahrheit und Erkenntnis gegenüber ein grundlegendes Element des von ihm beschriebenen Schulungsweges. Anthroposophie ist ihrem ersten Leitsatz entsprechend ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte. Die darin entwickelte Anschauung der unterscheidbaren Wesensglieder des Menschen macht das Verständnis der Heiligen Schriften des Alten und Neuen Testamentes auf der Grundlage eines selbstbewussten, freien Willens möglich. Anthroposophie ist keine Religion, sie ist aber das moderne Werkzeug zum Verständnis von Religionen. Dass Steiner auch Fragen des Kultus zeitgemäß beantworten konnte, zeigt sich an der Tatsache, dass er die kultischen Formen der mit seiner Hilfe gegründeten Bewegung für religiöse Erneuerung in Rahmen der Christengemeinschaft geschaffen hat. Die Qualität dieser Angaben erweist sich durch die fortlaufende Bestätigung im Vollzug der kultischen Handlungen seit nun schon mehr als hundert Jahren.

Persönlichkeit

Nimmt man zuletzt auf die vierte der im Credo genannten Möglichkeiten bezug, sich mit der Ideenwelt zu verbinden, zeigt sich auch hier ein überreiches Vermächtnis. Die liebevolle Hingabe Rudolf Steiners an eine «Persönlichkeit im Geiste» strahlt aus jeder Begegnung hervor, die im guten gegenseitigen Willen auf seinem Lebensweg geschah. Aus den festgehaltenen Erinnerungen seiner Zeitgenossen war es manchmal nur ein Blick, ein kurzes Wort oder im Falle einer esoterischen Begleitung ein tiefster karmischer Impuls, der von ihm ausging. Alle mittlerweile anerkannten anthroposophischen Lebensfelder wie zum Beispiel die Waldorfpädagogik, die biologisch-dynamische Landwirtschaft oder die anthroposophisch erweiterte Medizin haben ihren Ursprung ja in persönlichen Begegnungen mit Rudolf Steiner und den Fragestellungen, die an ihn herangetragen wurden. Die Bekanntschaft, Zusammenarbeit und Ehe mit Marie von Sivers hat schließlich den Schicksalsweg Steiners erst zu dem geführt, was die Anthroposophie durch ihn geworden ist. Alle privaten vertraulichen Briefe innerhalb ihrer Ehe wurden nach dem Tod Marie Steiners ihrem Wunsch entsprechend verbrannt. Doch gibt es einige ganz allgemein gehaltenen Wahrspruchworte Rudolf Steiners, die er seiner Frau gewidmet hat. In diesen Sprüchen wird das persönliche Erleben wieder mit dem Kosmos in Verbindung gebracht. Man kann dabei sogar von einer «Vermählung» des Einzelnen mit dem Weltall sprechen.

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