Text: Bernadine Schneider, Wien
Das Mädchen ist zurück von der Uni. Sie ist allein im Haus. Es ist später Nachmittag in dem großen Wohnzimmer im unteren Stock des Familienhauses mit Sicht in den Garten. Alte Meister blicken vertraut von den Wänden. Schwere Holzmöbel an die Seiten verschoben. Raum, Zeit, Stille. Das Ritual beginnt: Mit innerer Ruhe, zielgerichtet geht sie zur verbotenen Pioneer Hifi-Anlage. Die Finger finden von alleine die richtige Platte aus dem dicken Stapel der „Deutsche Grammophon“ Sammlung. Geübt drücken und drehen sie die Knöpfe der Anlage. Ein leises Summen, kaum hörbar. Ehrfürchtig hebt sie den gläsernen Deckel. Geschickte Hände legen das glänzende Schwarz auf die drehende Fläche. Langsam, vorsichtig hebt, schiebt und stellt sie die Nadel an den dunklen Rand. Wohlbekanntes Knistern von Staub und Kratzen durchbricht die Stille. Große hölzerne Lautsprecher erwachen in ihren dunklen Ecken, endlich dürfen sie den Raum erfüllen. Sie hält den Atem an. Das Herz klopft in Erwartung des ersten Tons. Sie kennt ihn, ja! Jeden Ton, jeden Kratzer, jede Pause, jeden Atemzug der Streicher kennt sie. Heute ist es wieder Dvořák „Aus der Neuen Welt“. Ihre Wirbelsäule streckt sich langsam Wirbel für Wirbel in ihre volle Länge, bis das Mädchen in den Himmel sehen kann. Die Schultern breiten sich aus nach Ost, nach West. Die Arme heben sich ganz von allein, sehnen sich nach dem Himmel. Die Beine wissen, dass sie über die ganze Erde schreiten werden. Sie ist bereit! Leise strömen die ersten Töne durch den Raum, ein stilles Tal liegt da in schattiger Nachmittagsstimmung. Mit Leichtigkeit bewegt sie erst eine Hand, dann den Arm, die Schultern und schließlich ihren ganzen Körper durch die weite Landschaft der Musik. Sie ist eins mit der Musik. Rasch entfaltet sich die geliebte Melodie, sie kennt sie schon gut. Und plötzlich wird es dramatisch! Berge, Schlagzeug, grüne Stürme, Hörner, silberne Felsen, blauer Samt mischen sich und der Raum ist davon erfüllt. Das Mädchen wird mitgenommen rauf und runter, nah und fern, hier und dort. Moll, Dur, Moll, Dur, rundherum, rhythmisch, fließend, schwingend. Die Füße berühren kaum den Boden. Durch Berge, Täler, Steppen tanzen sie. Wohlige Melancholie durchströmt ihr ganzes Wesen, während die Freude emporwächst. Sie tanzt! Und sie ist dabei nicht allein.
Die Musik wird zum Bild, ihre Landschaft für alle sichtbar. Wo ist die Musik? In ihren Ohren? In ihren Beinen? Die Musik ist überall! Drinnen in ihr. Rundherum. Ihr Körper will sich bewegen, wie von innen gedrängt. Ihr Kopf, ihre Gliedmaßen wollen entdecken, spielen. Was machen sie? Sie sind im Gespräch! Womit? Sie tasten, formen, umhüllen das ‚Dazwischen‘: die strömenden Lebenskräfte, die durch und um sie strömen und sie verlebendigen. Sie kann spüren, wie ihre Arme sich liebevoll im Austausch fühlen mit diesen Strömungen, einmal wie geführt, einmal selbst formend. Es ist, als ob sie mit einem unsichtbaren Liebespartner tanze – jeder Ton eine Freude, jeder Akkord ein großes Geschehen, jedes Interval eine neue Farbe. Und ja, mein Ich ist auch dabei, WIR kreieren gemeinsam: Die Musik, der Lebensstrom, meine Gliedmaßen und Ich.
Die Musik ist zu Ende. Ich stehe aufrecht. Ich fühle mich tief von geistiger Kraft erfüllt. Ich erlebe mich als strahlendes Wesen, spüre den Geist in mir, erhoben aus dem Alltag, erfüllt mit Lebenskräften und Ehrfurcht. Mein Körper war Werkzeug der Götter. In diesem aufrechten, strahlenden und erhabenen Zustand fühlte ich mich als etwas, das über mein Ich hinausreichte.
Der Raum ist verändert. Mein Körper ist verändert bis in die kleinste Zelle. Der Tanz macht heil – ich und die Welt. Gemeinsam kehren wir in den Alltag zurück.
Das alles, habe ich wahrgenommen.