Text und Foto: Wolfgang Schaffer
Eine wesentliche Annahme der Anthroposophie besteht darin, die Welt der Wahrnehmungen durch die Entwicklung neuer Sinnesorgane zu erweitern.
Gibt es die Seelenwelt, das Geisterland?
Wir sollten sogar die Möglichkeit ergreifen, durch die gezielte Ausbildung seelischer und geistiger Sinnesorgane Eindrücke aus höheren Welten zu empfangen, als es die uns umgebende sinnliche Welt zunächst zulässt. Diese Einblicke in eine uns umgebende Seelenwelt und in ein Geisterland können das oft so rätselvolle Schicksal vom Menschen und der Welt erst recht verständlich machen. Wir sind durch das Studium der Anthroposophie dazu berufen, eine zeitgemäße Hellsichtigkeit in die geistige Dimension des Daseins zu entwickeln. Dazu gehört als erster innerer Schritt die Entwicklung eines reichen Gedankenlebens.
Hier stellt sich vielleicht gleich die Frage, was die Entwicklung eines reichen Gedankenlebens mit der Erweiterung unseres Wahrnehmungsvermögens zu tun haben könnte? Dieser Zusammenhang ist leicht ersichtlich. Wir können nur die Wahrnehmungen in unser Bewusstsein aufnehmen, die sich auch gedanklich in den Zusammenhang unseres Erkenntnishorizontes einfügen lassen. Um wieviel reicher ist die Welt an Wahrnehmungen für den Betrachter einer blühenden Rose, der sich schon gedanklich mit der Gestalt, der Entwicklung und Entfaltung einer Pflanze beschäftigt hat, im Unterschied zu einem uninteressierten Passanten? Es kann dabei der Vergleich mit der Heilung von Blindheit angesprochen werden. Ein Mensch, der sein Augenlicht verloren hat, erlebt die Welt um ihn herum ganz ohne Farbeindrücke und ohne die Blickschärfe, die sich der Welt vom kleinsten Gegenstand direkt vor unseren Augen bis zum fernsten Sternenfunkeln in den Weiten des Weltalls anpassen kann. Wird ihm mit einem Mal die Sehkraft wiedergegeben, so muss er sich erst an die ganz ungewohnte Fülle von Helligkeit und Farbeindrücken innerlich anpassen. Das geschieht durch die Vereinigung der verschiedenen Farbwahrnehmungen mit den Begriffen Grün, Rot, Gelb, Blau… Bleiben wir nun einen Augenblick bei dieser Vorstellung und nehmen wir ganz ernsthaft an, dass wir tatsächlich die Blinden sind, von denen in dem Gleichnis die Rede ist! Wir sind blind für die geistige Welt und tappen als Blinde in der Finsternis in einer ganzen Welt von Eindrücken, deren Fülle weit über das hinausgeht, was wir mit unseren sinnlichen Augen hier auf der Erde erfahren können. Rudolf Steiner nennt diese tatsächlich existierende und für uns zunächst nicht wahrnehmbare Welt das «Geistige» oder «Übersinnliche». Wer über eine zeitgemäße Hellsichtigkeit verfügt, erlangt den Zugang in diese Sphäre. Sie umgibt uns gleich real wie die sinnliche Welt. Wir haben lediglich noch keine entsprechenden Sinnesorgane entwickelt, um sie wahrzunehmen. Ganz offensichtlich gibt es ja auch eine Ebene von Kräften und Impulsen, die unter der Grenze der sinnlichen Wahrnehmung liegen. Elektrizität und Magnetismus zum Beispiel sind für menschliche Sinne nicht direkt wahrzunehmen. Sie konstituieren eine virtuelle, untersinnliche Welt. Um die darin gespeicherten Informationen als Bilder und Töne aufzunehmen, braucht es auch spezielle «Sinnesorgane». Diese werden technisch hergestellt und Telefon, Televisonsgerät, Computer, Tablet und Smartphone genannt…
Das Wahrnehmen erweitern
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern. Der einfachste und ganz praktische Schritt zur Erweiterung des Wahrnehmungsvermögens besteht darin, sich mit vollem Bewusstsein in die bereits gewohnten oberflächlichen Sinneseindrücke zu vertiefen. Das gelingt am besten, wenn man sich von Zeit zu Zeit gezielt vornimmt, eine ganz unscheinbare Situation aus dem Alltag durch besondere Aufmerksamkeit hervorzuheben. Man entschließt sich zum Beispiel, bei einem bestimmten Baum auf einem gewohnten Weg stehenzubleiben und sich auf die genaue Wahrnehmung seiner Blätter zu konzentrieren. Wie sieht ein einzelnes Blatt tatsächlich aus, wie fühlt es sich an, wie riecht es, welches Geräusch entsteht, wenn ich einen ganzen Zweig mit Blättern rasch bewege? Ein anderes Beispiel besteht darin, ein begehrtes Getränk ausnahmsweise in kleinen Schlückchen zu sich zu nehmen. Wie viel intensiver kann ich dann den Geschmack des Getränkes wahrnehmen? Das konzentrierte Beobachten von Wolkengestalten und deren Bewegungen am freien Himmel sowie die Erfassung der jeweils unterschiedlichen Lichtqualität einzelner Sterne gehören auch zu diesen Übungsmöglichkeiten. Das bereits bekannte Wahrnehmen der Welt erweitert sich durch solche Versuche sowohl vom Umfang her als auch von der Qualität der empfangenen Eindrücke.
«Alle unmittelbaren Empfindungsobjekte, insofern das bewusste Subjekt von ihnen durch Beobachtung Kenntnis nimmt» werden von Rudolf Steiner in seinem Buch «Die Philosophie der Freiheit» als Wahrnehmungen bezeichnet. Wenn man kleine Kinder dabei beobachtet, wie hingebungsvoll sie sich in die Wahrnehmung eines glitzernden Kieselsteines vertiefen können, bekommt man eine Ahnung davon, dass es sich bei der Wahrnehmung der Welt im Grunde um eine Gottesbegegnung handelt. Kindern fehlt bis zur Entdeckung des eigenen Ich das zitierte Dasein als «bewusstes Subjekt». Für die Kinder ist die Einheit von äußerer Sinneswahrnehmung und innerer Sinnhaftigkeit dadurch noch nicht getrennt. Ihr «Ich» hat sich bis zu einem gewissen Lebensalter noch nicht so eng mit dem physischen Körper vereint, dass es in Anbetracht einer Wahrnehmung zu einer Unterscheidung von Außenwelt und Innenleben kommt. Sobald einmal das Ich-Bewusstsein mit der Wahrnehmung der eigenen Leiblichkeit zu dem «bewussten Subjekt» verschmolzen ist, beginnt auch die Fähigkeit, sich an Ereignisse und Situationen mit Bestimmtheit zu erinnern.
Die Hellsichtigkeit
«Das Unsichtbare wird sichtbar werden», heißt es in einem Sinnspruch, den Rudolf Steiner an einer ganz bestimmten Stelle des von ihm beschriebenen Schulungsweges zur Erlangung von Erkenntnissen der höheren Welten angegeben hat. Dieser Verheißung steht ein zweiter Sinnspruch gegenüber, der da lautet: «Es gibt in ihr – dieser Wahrnehmung – etwas, das ich nicht mit Augen sehe.» Vor diesen beiden Sprüchen zur Meditation ist jeweils ein Wahrnehmungsobjekt gleichsam «eingespannt», auf das sich die beiden Sätze beziehen. Es ist zuerst ein ganz konkreter, kleiner Apfelkern. Ihm gilt der Satz: «Das Unsichtbare wird sichtbar werden.» Dem voll erblühten, ausgewachsenen Apfelbaum auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung entspricht dann der zweite Satz. «Es gibt in ihm etwas, das ich nicht mit den Augen sehe». In beiden Situationen gibt es anhand einer konkreten sinnlichen Wahrnehmung etwas bisher Unsichtbares, das in die Sichtbarkeit zu versetzen ist. Der Ausgangspunkt ist jeweils die voll bewusste, möglichst wirklichkeitsgetreue Wahrnehmung des Apfelkernes wie auch des Blütenbaumes. Das Ziel der meditativen Übung besteht darin, die der Pflanze innewohnende Lebenskraft selbst wahrzunehmen.
Diese Lebenskraft wird in der Anthroposophie auch als der Ätherleib der Pflanze bezeichnet. Hat man sich nun möglichst umfassend in alle wahrnehmbaren Einzelheiten des Apfelkernes vertieft, überlässt man sich den Worten, «Das Unsichtbare wird sichtbar werden», und stellt sich dabei möglichst lebensvoll alle kommenden Entwicklungsschritte des keimenden und wachsenden Apfelkernes vor sein inneres Auge. Wir vollziehen den mannigfaltigen Formenwandel des harten, trockenen Kernzustandes bis hin zur voll erblühten, farbig leuchtenden, duftenden Pflanze rein in Gedanken und vertiefen uns in den Begriff des Unsichtbaren. Hätte man eine täuschend ähnliche aber künstlich erzeugte Nachbildung eines Apfelkernes vor sich, so wäre dieses Unsichtbare nicht in ihm. Aus dieser konzentrierten inneren Tätigkeit des rein gedanklichen Zur-Entfaltung-Bringens, der in dem wirklichen Samenkorn vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten, kann und soll nach oftmaligem Versuchen ein ganz bestimmtes Gefühl entstehen. Dieses ganz im Sinne eines «Unsichtbaren, das sichtbar werden wird», entwickelte Gefühl entspricht dann der Empfindung, die wir auch an einer konkreten Farbwahrnehmung in der äußeren Welt haben. Wir sehen aber nicht die Farbe einfach als selbsterzeugte Vorstellung, sondern wir erleben ein Gefühl, das auch bei der Wahrnehmung einer sinnlich sichtbaren Farbe zumeist unbewusst in uns entsteht. Es handelt sich dabei um die innere Wahrnehmung einer geistigen Flammenbildung, in die das sinnlich sichtbare Samenkorn wie eingebettet erscheint. Diese farbig glänzende Flamme entspricht der Lebenskraft, die in dem Apfelkern unsichtbar verborgen liegt. Hier beginnt die zeitgemäße, aus eigenem Bemühen erlangte Hellsichtigkeit.
Kommt man nun im Verlauf dieser ersten Übung zur Erlangung höherer Welten an das Ende aller Entfaltungsmöglichkeiten eines Samenkornes, so steht ein blühender Apfelbaum vor unseren Augen, der sogar noch weit über die sichtbar entfaltete Blütenpracht hinaus mit Blütenduft und Pollenstaub in den Umkreis wirkt. Genau dort beginnt die zweite der genannten Übungen mit dem Wortlaut: «Es gibt in ihr – der voll erblühten Pflanze – etwas, was ich nicht mit Augen sehe.» Nun geht es um die von der ersten Übung ganz unabhängige Wahrnehmung eines wirklich in der Welt verwurzelten, voll erblühten Baumes. Ihm gegenüber entwickelt man in der Vorstellung den Verlauf des allmählichen Vergehens aller Blütenpracht bis hin zum vollständigen Verschwinden des gesamten Baumes am Ende der Verwandlungsreihe. Dieses «Etwas, das ich nicht mit Augen sehe», wird dann trotzdem noch zusammengezogen in ein winzig kleines Samenkorn vorhanden sein, versteckt im Inneren eines saftigen Apfels. Auch bei dieser Meditation soll es zur Erlangung der übersinnlichen Anschauung der in der Pflanze wirksamen Lebenskraft selbst kommen. Der genaue Verlauf dieser beiden Meditationen findet sich in dem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten» von Rudolf Steiner in dem Kapitel «Kontrolle der Gedanken und Gefühle.»
Im Ich erwache!
Wahrnehmen hat mit dem Geheimnis des Erwachens zu tun. Wir vollziehen ja jeden Morgen den Übergang aus der tiefen Bewusstlosigkeit des nächtlichen Schlafes in die taghelle Klarheit der Eindrücke, durch die wir die Welt um uns mit unseren Sinnen erfassen. Wie bereits in dem erwähnten Gleichnis von der Blindheit dargestellt, können wir auch davon ausgehen, dass wir auf unserem menschheitlichen Entwicklungsweg aus tiefer Unbewusstheit heraus in immer höhere und hellere Bewusstseinszustände hinein erwachen werden. Dazu gehört seit der Begründung der Anthroposophie am Beginn des 20. Jahrhunderts auch die Erlangung der Fähigkeit, die Welt des Lebendigen, des Seelischen und Geistigen mit eigenen Augen und Ohren in Hellsichtigkeit wahrzunehmen. Ein Sinnspruch Rudolf Steiners zeichnet diesen Weg.
«Im Denken erwache: Du bist im Geisteslichte der Welt. Erlebe dich als leuchtend, das Leuchtende tastend.
Im Fühlen erwache: Du bist in den Geistes-Taten der Welt. Erlebe dich, die Geistes-Taten fühlend.
Im Wollen erwache: Du bist in den Geistes-Wesen der Welt. Erlebe dich, die Geisteswesen denkend.
Im Ich erwache: Du bist in deinem eignen Geistes-Wesen. Erlebe dich Sein von Göttern empfangend und dir selbst gebend.»1
1 Rudolf Steiner, GA 265, Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule 1904 – 1914.