Der Ansturm der Gefühle

Die Pubertät: Das Ergreifen der Gefühlswelt im Unterricht für Kunstgeschichte Gespräch mit Dr. Arnulf Bastin, Waldorflehrer für Kunstgeschichte und Deutsch.
Textbau: Reinhard Apel. Wegen anders formatiertem Text, siehe Anmerkung unten.

Als international tätiger Waldorflehrer gebe ich Kunstunterricht für die neunte, zehnte und elfte Schulstufe.

Während der Waldorfkindergarten noch das Vorschulkind bei der letzten Phase der Leibgebundenheit begleitet, durchzieht die Unter- und Mittelstufe das Mitgehen mit der natürlich vorhandenen Lebensfreude und dem Ausleben der Lebenskräfte in der Zeit bis zur Pubertät. Dann setzt das Hinneigen zu starken Gefühlen ein. Das zeigt sich auch an der Geschlechtsreife. Persönliche Empfindungen werden wichtig, manchmal übermächtig. In der anthroposophischen Menschenkunde spricht man davon, dass da der Astralleib geboren wird. Das bedeutet, das Empfindungsleben entfaltet sich besonders stark, denn der Astralleib ist auch der Empfindungsleib des Menschen. Im Weiteren erzähle ich davon, wie man im Waldorf Kunstunterricht dieser neuen Innensituation der jungen Menschen entgegenzukommen versucht.

Ich bin jedes Jahr wieder erfreut und überrascht, wenn ich nach Peru komme und sehe, wie anders die Menschen dort sind. Die Schüler sind normale Neun- bis Elfklässler, aber doch reagieren sie anders, man kann sie anders ansprechen. Vieles ist noch viel reiner, viel einfacher, viel weniger überdeckt von allen möglichen angelesenen Sachen, abstraktem Wissen. Es ist noch möglich ganz elementar zu arbeiten und ihre Reaktionen ungefiltert zu erleben. Ich komme wohl auch mit Inhalten, die die Schüler überhaupt nicht kennen, und sie merken erst mit der Zeit, dass es etwas mit ihnen macht.

Ich habe immer die neunte Klasse im Hauptunterricht, das sind die ersten 100 Minuten des Schultages ohne Pause. Im Bereich von Lima wohne ich ca. 500 Meter von der Schule entfernt. Morgens um halb sechs stehe ich auf und mache anschließend die Tafelzeichnung auf einer Holztafel (etwa 1.15m auf 95 cm). Dann trage ich die Tafel in die Schule hinüber.

Da sehen die Schüler beim Hereinkommen als erstes die Zeichnung an der Tafel?

Nein, ich habe die Tafel umgedreht. Sie sehen die Zeichnung vom Vortrag, die Rückseite. Zuerst schauen sie auf das, was am Tag vorher gewesen ist. Was in dieser Waldorfschule meines Erachtens zu wenig kommt, ist das Rezitieren von Gedichten. Oft kommt die Frage: „Hast du wieder Gedichte auf Spanisch für uns mit?“

Natürlich gibt es den Morgenspruch auf Spanisch und dann habe ich zwei Sprüche, die ich mit Hilfe übersetzt habe. Der erste ist der Spruch von Rudolf Steiner für den Kunstunterricht. Die ganze Klasse spricht wie meist bei Waldorf im Chor und lernt den Text auswendig. Das bewirkt, die Besseren ziehen die anderen mit, es gibt keine Peinlichkeiten und keine Angst vor dem Sprechen. Jeden Tag kommt ein Stück dazu. Wenn wir den Spruch dann können, wird er abgeschrieben. Zuerst Wort, Mund zu Ohr, danach in die Schrift gebracht. Sonst würde jeder mit seinem Text dasitzen und man hörte sich nicht mehr zu. Das ergibt eine andere Art poetische Texte zu lernen. Es kommt dann immer so ein verlegenes Kichern, während ich ihnen das zweite Gedicht vortrage: den Wagenlenker.

Der Wagenlenker

Das ist ein klassisch griechisches Gedicht von Pindar über die Situation, dass der Wagenlenker in seinem Korb steht, die Zügel hat und vorne sind vier Pferde, die ziehen. Es geht in der klassischen griechischen Plastik um die Darstellung von Bewegung. Ich zeige auch die antike griechische Plastik vom Wagenlenker. Dabei ist der Wagenlenker der Endpunkt von Bewegung. Die Pferde sind eingeschmolzen worden im Krieg, der Wagenlenker steht aber noch da, der linke Arm ist auch weg. Dennoch ist die Darstellung nahezu unüberbietbar gut. Dazu dann das Gedicht von Pindar. Es lautet auf Deutsch:

Wenn Du kühn im Wagen stehst

und vier neue Rosse, wild, unordentlich

sich an Deinen Zügeln bäumen,

dann dramatisch, mit lauter Stimme

du die austretenden herbei, die aufbäumenden hinab

peitschest und jagst und lenkst und wendest

peitschest, hältst und wieder ausjagst!

 Pause

                        jetzt die Stimme ruhig und beherrscht 

Bis alle sechzehn Füße

in einem Takt ins Ziel dich tragen.

Das ist Meisterschaft,

erhabne Willenskraft.

Ein kurzes Gedicht, eigentlich wenig Text. Am Anfang neutral die Situation, die Situation einfach hingestellt, dann die Dynamik bis zu einem fast nicht mehr steigerbaren Punkt und danach der wichtigste Moment, die Pause! Einen Schüler gibts immer, der die Pause nicht mehr aushält und dann das Weitere vorweg hineinredet. Dann kommt der neue Einsatz für den ruhig zu sprechenden Schluss. Das Ganze natürlich in Peru auf Spanisch.

Unglaublich, was das macht mit den Kindern! Zuerst meinen sie: „ Ooh, das geht ja gar nicht“. Dann überwinden wir diese Schwelle freundlich und sie lernen den Pindar Stück für Stück. Dann gehen wir in die Ausgestaltung des Gefühlsbogens in der Sprache. Am Ende können sie den Text selbständig sprechen. Ich gebe nur noch ein paar Handzeichen. Wie gesagt, in europäischen Waldorfschulen kann man in dem Alter schon rezitieren, in Lima ist es ungewohnt.

Man weiß aus eigener Erfahrung, dass viele Schüler den einen oder anderen Spruch oder ein Gedicht der Schulzeit ein Leben lang merken.

Ich glaube, es ist begreiflich, wie durch so ein Vorgehen den Jugendlichen von außen etwas entgegenkommt, was mit den inneren Seelenvorgängen dieser Altersgruppe, den wilden Rossen, etwas zu tun hat. Es wird nicht moralisiert, es wird in der Sprache etwas durchgemacht und durchgeübt, was sie im Erwachsenenalter später mehr oder weniger gut können werden müssen.

Wenn schon erwachsen dauernd die Gefühle mit einem durchgingen, käme ja die ganze Biografie in Gefahr. Unter Umständen hält kein „to do and not to do“, kein ethischer Vorsatz das dann mehr im Zaum. Durchgehen durch die Emotion und hinten wieder herauskommen ist das Geheimnis. Auch Drogeneinnahme hat mit dem nicht Aushalten der eigenen und ja ganz berechtigten Gefühlswelt zu tun. Durch künstlerisches Tun, einer Spezialität der Waldorfschule, ist man dem Empfindungsleben nach dem Motto „Eintauchen und nicht untergehen“ besser gewachsen. Die „Moral von der Geschicht“ steht dabei, wie man wegen der „wilden Rosse“ vermuten könnte, in keiner Weise im Vordergrund.

Foto: David Monniaux

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