… zum Charakter und Temperament der Kinder
Text: Anita Kux, Wien
In der Waldorfschule bekommt jedes Kind am Ende des Schuljahres einen für ihn passenden „Zeugnisspruch“, den es jede Woche im kommenden Schuljahr an dem Tag seiner Geburt vor der Klasse spricht.
Dieser Spruch soll das Kind entweder in seinen Eigenschaften stärken oder ihm als Ermutigung für das Überwinden oder der Entwicklung eines Charakterzuges dienen. Bild, Rhythmus und Worte werden mit der Zeit verinnerlicht und helfen der Reifung der Seele. Der Spruch beinhaltet oft zwei Teile. Zuerst gibt man dem Kind ein Bild seiner Selbst und dann kommt ein Blick seines möglichen Werdens.
Bei der Auswahl oder beim Schreiben eines Spruches versucht die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer sich ein innerliches Bild des Kindes zu machen. Es ist wie ein Meditieren über das Kind, nachdem über das ganze Schuljahr die verschiedenen Züge des Kindes wahrgenommen worden sind.
Wie war meine eigene Vorbereitung dafür? Ich hatte ein „goldenes“ Buch, in das ich am Abend besondere Beobachtungen oder, wenn nichts Besonderes vorgekommen war, doch monatlich über jedes Kind meine Wahrnehmungen schrieb.
Was habe ich denn wahrzunehmen versucht?
Wie das Kind schreitet, wie es steht, ob es seinem Gegenüber in die Augen schauen kann, wie es bekleidet ist, wie das Kind in die Klasse kommt (stürzend, muffig, strahlend, laut, langsam), wie es mich begrüßt, ob es gleich zu seinem Platz strebt oder erwartungsvoll zu den Freunden geht, ob es unbedingt eine Anekdote erzählen will…
Am Unterrichtsbeginn – spricht es den Morgenspruch mit und mit welcher Haltung. Lauscht es lieber, anstatt sich zu beteiligen? Meldet es sich während des Unterrichts oder verhält es sich eher still und unauffällig? Merkt das Kind, dass neue Malbilder hängen und will dazu etwas sagen oder bleibt es bei einem Bild lang hängen und träumt? Schaukelt es mit dem Sessel? Macht es im rhythmischen Teil mit? Wie ist seine Stimme? Wie verhält es sich in der Pause? Spielt es lieber allein oder mit anderen? Ist es ein eine Führernatur oder ein Einzelgänger? Bleibt es bei mir? Kann es bei einem Spiel verlieren? Alle diese Wahrnehmungen helfen mir das Temperament eines Kindes wahrzunehmen und auch seinen Charakter. Ich muss aber bei mir sehr Acht geben, dass ich kein Urteil fälle!
Ich möchte hier zwei Beispiele schildern:
Roman ist der Erstgeborene einer Familie mit zwei Buben. Die Eltern kommen aus Armenien, reden fließend Deutsch und lieben Österreich. Der Vater ist Opernsänger. Die Mutter ist bei den Kindern.
Der Übergang vom Kindergarten in die Schule fällt Roman schwer. Er ist wie entwurzelt. Er bleibt lange mit seiner Mutter in der Garderobe. Er spricht leise zu mir, schaut mich mit einem fragenden Blick an. Im Unterricht meldet er sich oft, um sich zu vergewissern, dass alles schön ist oder damit ich ihm die Buchstaben noch einmal zeige. Er strahlt, wenn ich ihn lobe und bleibt gerne bei mir. Er meidet die Bubenkämpfe. Wenn er sich von einem Kind schlecht behandelt fühlt, kann er vehement reagieren oder beklagt sich über dieses Kind bei mir. Im Allgemeinen strahlt er eine gewisse Unsicherheit aber auch eine feine Sensibilität aus.
Beim Schreiben eines geeigneten Spruches kommt mir das Bild eines scheuen Rehs vor. Der Spruch soll Roman stärken. So beschreibe ich zuerst das Reh, um dann ein positives Element bei dem Reh hervorzuheben. Das soll ihm Vorbild werden. So lautet der Spruch für die zweite Klasse: (noch in Blockschrift)
REHLEIN STEHT UND ZAUDERT GLEICH,
SIEH, SEIN FELL IST FEIN UND WEICH,
SIEH, DIE ZARTE SPUR IM SCHNEE,
LEICHTE SCHRITTE HAT DAS REH!
FLINK SPRINGT’S ÜBER KRAUT UND STRAUCH,
RUHIG GRAST’S IM ABENDHAUCH,
SCHNUPPERT, LAUSCHT UND RASCH ERSCHRICKT,
WENN DER WIND EIN ZWEIGLEIN KNICKT.
ABER SEINER AUGEN PAAR
LEUCHTET RUHIG, SCHÖN UND KLAR.
In der zweiten Klasse hat sich Roman an das Schulleben gewöhnt. Er verliert ein wenig von seiner Zurückhaltung, arbeitet selbständiger. Schnell aber ist er gekränkt. Er bekommt dann einen dunklen bockigen Blick und es braucht einige ermutigende Worte, um ihn aus der Reserve zu holen. Sein melancholisches Temperament kann ihm eine Belastung werden.
Da in der zweiten Klasse viele sinnige Geschichten über Blumen erzählt werden,
versuche ich, mit Hilfe einer Kollegin für ihn folgenden Spruch zu schreiben. (in Schreibschrift)
Nach dem Bild der großen Sonne,
die uns strahlt vom Himmel oben,
leuchten tausend kleine Sonnen
auf der Erde sie zu loben.
Sonnenblumen, bunte Astern,
selbst Maßliebchen winzig klein,
woll’n im Lichte, in der Wärme
wie die große Mutter sein.
Auch ich selbst, ein Kind auf Erden
Bin ein starkes kleines Licht.
Wärmen will ich und erleuchten,
finster werden will ich nicht.
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Monika ist unser zweites Beispiel. Sie ist das dritte Kind einer zweiten Ehe, ist klein und zart, aber unter der Obhut ihrer älteren Schwestern schon sehr wach und hell. Beim Schreiten berühren ihre Füße kaum die Erde. Sie kommt sehr früh in die Schule, hat jeden Tag eine Anekdote zu erzählen, will gefragt werden, mischt sich gerne in die Angelegenheiten anderer ein und hat es schwer, auf ihrem Stuhl ruhig zu sitzen.
So bekommt sie als Zeugnisspruch für die zweite Klasse ein etwas geändertes Gedicht von H. Diestel:
MEINE RAPPEN, DIE RENNEN MIT RASENDEM SPRUNG/SCHWUNG
ÜBER STOCK, ÜBER STEIN, ÜBER GRÄBEN IM SPRUNG!
MEINE BRAUNEN, DIE GEHEN IN STETIGEM TRAB
ALLE HÜGEL HINAUF, ALLE HÜGEL HINAB.
MEINE SCHIMMEL, DIE LIEBEN DEN LANGSAMEN GANG
MIT RUHIGEN SCHRITTEN DIE WEGE ENTLANG.
In der zweiten Klasse ist ihr Schritt schon etwas bedächtiger. Sie übt Voltigieren und liebt es. Sie ist oft ungeduldig und lässt andere Kinder nicht nachdenken, vor allem beim Rechnen. Ihr sanguinisches Temperament möchte immer Neues!
Für die dritte Klasse wähle ich für sie einen litauischen Spruch:
Pflug, du musst lange Furchen ziehen,
tief ins Feld lange Furchen ziehen.
Saat, du musst nun den Frost überstehen,
harten Frost musst du überstehen.
Halm, wachs auf, setze Körner an,
setze Körner an.
Liebes Brot, mach die Menschen satt,
dass ein jeder zu essen hat.
Mit dem Üben der Wahrnehmung lernte ich die Kinder in ihrem Werden zu erfassen. Und wenn jetzt ein Klassentreffen stattfindet, ist es eine große Freude für mich wahrzunehmen, wie ein Keim sich zur Frucht verwandelt hat.