Der Kinderarzt als Begleiter ins Leben
Zusammengestellt aus einem Gespräch mit Dr. Reinhard Schwarz, Facharzt für Kinderheilkunde
mit Ausbildung in anthroposophischer und homöopathischer Medizin in Graz.
Text: Reinhard Apel
Ich lebe seit 52 Jahren beruflich in der Kinderheilkunde, sieben Jahre in der Klinik, 45 Jahre in der eigenen Praxis. Ihre Frage ist, wie der Arzt, der anthroposophische Arzt, den Weg des Kindes bis zu seiner Individualisierung als Erwachsener begleitet, also auf dem Weg zu sich. In einem Interview werden wir vieles nur schlaglichtartig beleuchten können. Für die Vertiefung sei auf die anthroposophisch – medizinische Fachliteratur verwiesen.
Man freut sich, wenn ein Kind gesund ist, das ist selbstverständlich. Das besonders schöne Erlebnis an meinem letzten Geburtstag war, dass ich ein gesundes Neugeborenes sehen und beurteilen durfte, ein Geschenk. Das kleine Kind strotzt vor Lebensfreude und gibt auch etwas davon weiter. Die jungen Eltern merken das noch nicht so stark, sind beschäftigt mit ihrer Lebensumstellung, aber als älterer Mensch nimmt man das wahr und freut sich darüber.
Nun braucht das Kind am Anfang Ernährung und Ruhe. Daher im Wochenbett der Mutter nicht zu viele Besuche! Die beiden müssen sich jetzt neu aneinander gewöhnen. Sie haben sich innerlich gut kennengelernt, als das Kind noch im Mutterleib war. Ungeboren wächst das Kind der Mutter ans Herz, es wächst in der Gebärmutter zum Herzen der Mutter hin und das Kind kann das Herz der Mutter dann durch den Zwerchfellmuskel hören. Wird das Kind nach der Geburt von außen zum Herzen der Mutter gebracht, wird es sich, weil es Bekanntes hört, beruhigen.
Der Apfel und die Muttermilch
Ein kurzer Exkurs: Wenn den Müttern gesagt wird, sie könnten nach der Entbindung essen, was sie wollen, führt das in vielen Fällen dazu, dass das Kind Bauchweh bekommt. Das Kind wird, wenn es auf regulärem Weg geboren wird, durch die Scheide geboren. Dort herrscht ein milchsaures Milieu. Das gehört zu den ersten Dingen, die das Kind durch den Mund aufnimmt und es baut daraus seine Darmkeime auf. Wenn die Mutter jetzt einen knackigen Apfel haben möchte, weil ihr diese Erfrischung verständlicher Weise schon abgeht, dann führt das dazu, dass auf einmal beim Kind Fruchtsäure ankommen. Mit der kann das Kind mit seiner Verdauung noch nicht umgehen. Es bekommt Bauchweh. Je reifer der Apfel ist, desto mehr Fruchtzucker enthält er anstelle der Fruchtsäure. Dieser ist für die Verdauung des Babys kein Problem, detto bei Tomaten, Salaten mit Marinade usw.1 Was die Mutter isst, darf sie ja nicht alles zu Ende verdauen. Es muss etwas übrigbleiben, was sie dem Kind über die Muttermilch zur Verfügung stellt. In diesem speziellen Fall enthält die Muttermilch dann etwas Unverdauliches. Ansonsten ist die Muttermilch natürlich das universale Nähr- und Heilmittel in diesem Alter und individuell auf das Kind abgestimmt.
Exotische Gewürze
Ein interessantes Beispiel war eine Mutter aus Südindien, die südlich von Mumbai geboren worden war, in die Mutterberatung. Das Kind hatte furchtbare Koliken. Ich fragte: „Wie kochen Sie denn?“ „Ja, so wie ich es von meiner Mutter gelernt habe“. Ich riet ihr: „Kochen Sie jetzt erst einmal mit den Gewürzen von hier“. Eine Woche später waren Koliken viel seltener. Und ich hatte mir durch Nachdenken den Zusammenhang klargemacht. In Südindien muss man nämlich die traditionellen innerlich heiß machenden Gewürze verspeisen, damit man durch die innere Hitze die äußere Hitze überhaupt aushalten kann. Bei uns in der gemäßigten Zone ergibt sich da ein Überschuss, der vom Baby dann nicht ausgehalten wird. Eine subtile Geschichte. Die Wirkung der Gewürze ist nicht überall einfach die gleiche.
Von Wärme und Kälte
Das Kind kann die Körpertemperatur nicht so gut halten wie der Erwachsene. Diese Fähigkeit verbessert sich ungefähr ab dem dritten Lebensjahr, wenn das Kind „Ich“ sagen kann. Der Erwachsene kann gut seine Körperwärme eine halbe Stunde bewahren. Das junge Kind kühlt bei zu viel Kälte innerhalb von 5 Minuten auf die Temperatur des umgebenden Wassers ab. Das betrifft auch das so populäre Babyschwimmen. Das Babyschwimmen gibt dem Kind zwar das Erlebnis der Auftriebskräfte wieder, das es im Mutterleib hatte, aber die verwendeten Wasser sind meist höchstens 32-33 Grad warm. Die Betriebstemperatur des jungen Kindes bis zur Schulzeit beträgt aber 37 Grad. Auch das Chlor im öffentlichen Bad kann die Atemwege irritieren. Man könnte auch Ozon zur Reinigung verwenden. Das Wichtigste ist aber das Problem mit der Temperatur, denn Wärme und gute Ichkräfte ausbilden hat anthroposophisch gesehen viel miteinander zu tun.
Die entzündlichen Erkrankungen sind meist mit Fieber verbunden. Da haben viele Eltern verständlicherweise eine gewisse Angst, wenn eine Temperatur über 39 Grad erreicht wird. Es gibt Kinder, die rasch und hoch fiebern, aber nur kurze Zeit. Das ist natürlich und richtig so, was da der kindliche Organismus tut. Es wirkt aber bedrohlich. Solche Kinder machen wahrscheinlich gerade einen Virusinfekt durch. Man weiß, dass die Viren ein „kaltes Volk“ sind, das minus 80 Grad aushält aber nicht mehr als plus 39 Grad. Der Organismus kann also mit 39 Grad und darüber selbst das Überhandnehmen der Viren eingrenzen. Bei den Bakterien geht das nicht immer so leicht. Daher hat die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde eine neue Leitlinie mit Fieber angeregt. Dabei wurde aufgegriffen, was im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke im Ruhrgebiet dazu entwickelt wurde. (https://www.gemeinschaftskrankenhaus.de/). Es gibt dazu als Orientierung eine Fieber App von Professor David Martin, die auch von schulmedizinischen Kollegen gutgeheißen wird. Dabei können die Eltern diesen Umgang erlernen, auch betrachten, wie sich das Fieber im Körper verteilt, wie man es ableitet usw.
Am Anfang steigt das Fieber zuerst in den oberen Menschen hinein, bewirkt beispielsweise Kopfschmerzen und andere Beschwerden. Sind die Waden zu kühl, soll man sie erwärmen mit Fußbad oder Wärmeflasche, obwohl die Temperatur am Thermometer hoch ist! Zu den ableitenden Maßnahmen gehören z.B. Wadenwickel. (Die Fieberapp: www.veverapp.de/app)
Fiebern ist eine gute, sehr wirksame natürliche Reaktion und bei viralen Infekten fast immer sehr wirksam. Fieber lässt sich normalerweise beherrschen und der Körper lernt auch den Umgang damit. Natürlich gibt es Krisen, wo auch ich das Fieber senken werde. Aber zumeist kann man es zum Vorteil des Patienten wirken lassen.
Wesenhaftes
Als Allererstaunlichstes beginnt das Kind sich zwischen neun Monaten und eineinhalb Jahren aufzurichten. Ein Wunder eigentlich, auf das Eugen Kolisko, der seinerzeitige Schularzt der ersten Waldorfschule, besonders hingewiesen hat, denn die Aufrichtung erfolgt gegen die intensivste physikalische Kraft, die Schwerkraft wie selbstverständlich. Das Tier bleibt hingegen zeitlebens in der Waagrechten. Man kann alle Erkrankungen in vorwiegend leibliche einteilen und in die, die auftreten, wenn das Seelische erscheint und sich in den Reaktionen des Kindes zeigt. Das Aufrichten ist die Befreiung von der zu starken Leibgebundenheit. Die Tiere können nur gewisse Laute von sich geben. Sie formen keine Sprache. Der Mensch hat den Vorteil, dass der Kehlkopf zunächst etwas weiter oben sitzt, dann hinunter rückt, sodass der Mensch in Sprache und Gesang sich äußern kann. Da kommt das Seelische heraus. Ohne diese Möglichkeiten, wären wir sehr arm als menschliche Wesen.
Wenn das Kind beginnt „Ich“ zu sagen, lässt sich auch noch Geistiges an dem jungen Menschen wahrnehmen. Erst wenn das Kind Erinnerungen hat, kann es diese verknüpfen und ist dann auch in einem Alter, wo schon eine gewisse Sprachfähigkeit erworben wird. Manche Kinder sprechen früher, andere später. Die später sprechen, sind meistens beobachtend sehr lange tätig, haben dann aber einen sehr großen, schönen Wortschatz, mit dem sie alles genau benennen können. Das Kind lernt auch die Atmung zu unterbrechen, was für das Sprechen unerlässlich ist. Denn beim Einatmen kann man nicht sprechen. Einfach selbst ausprobieren. Bei manchen Kindern kann ein Stottern auftreten. Man kann ihnen helfen, wenn man ihnen beibringt, dass sie ihre Antwort singen, weil sie dann in den Ausatemstrom kommen.
Erweiterte Betrachtung
Die Kinder erhalten eine leibliche Grundlage von den Eltern. Das Seelische des Kindes bemerkt vielleicht, dass diese Leiblichkeit seinen „Idealen“ nicht entspricht. Es hat diese Ideale nicht bewusst, aber das im Hintergrund wirkende Seelische möchte in der Körperlichkeit, die zu erobern ist, seine Ziele verwirklichen. Das Seelische hat eine Art Voraussicht, wie es im Kind erscheinen möchte. Die ganze Art, wie ein Mensch sich persönlich zeigt ist sehr unterschiedlich – fröhlich, nachdenklich, laut, leise und so weiter. Das will sich verwirklichen, ist als hintergründige Intention anzunehmen, es ist das, was sich allmählich inkarniert. Man soll den Eltern pädagogisch helfen, wie mit einem spezifischen Kind umzugehen ist. Das Kind entpuppt sich immer überraschend.
Bei kleinen Kindern muss der Arzt im Krankheitsfall herausfinden, was los ist. Sie können noch nicht sagen, wo genau es weh tut, sie weinen einfach. Eine Harnuntersuchung ist oft hilfreich oder andere diagnostische Behelfe. Außer den klassischen Ursachen für Erkrankungen in diesem Alter gibt es auch Gesundheitskrisen, wo das Seelische, das wir aus dem Vorgeburtlichen mitbringen, bemerkt, dass diese Leiblichkeit, die von den Eltern zur Verfügung gestellt worden ist, nicht so richtig passt, um sich voll entfalten zu können. Diese Behauptung von mir setzt voraus, die Anerkennung, dass es beim Menschen ein Leibliches, ein Seelisches und ein Geistiges gibt. Dieses Seelische wird meist noch durch das Geistige bestimmt, welches das Kind auch wie der Erwachsene hat, nur ist es noch nicht so gut in ihm anwesend, sodass es mehr von außen kommend sich zeigt. Nun kommt es zur Irritation, dass dieses Seelische (und das dahinter wirkende Geistige) dazu kommt zu wenig oder auch zu viel von diesem Leib Besitz zu ergreifen. Als Beispiel nehme ich einen juckenden Hautausschlag. Das Seelische ist dann in diesem Hautausschlag gebunden, so ergibt sich der Juckreiz, für den man keine somatische Erklärung findet. Ergreift das Seelische zu wenig das Leibliche, dann arbeitet das Leibliche vor sich hin, aber nicht unbedingt so geordnet, wie es für ein gesundes Leben dieses Kindes geeignet wäre. In beiden Fällen greife ich ein, basierend auf einem möglichst klaren Bericht der Eltern über die Beschwerden.
In dem Teil über das Fieber sahen wir einen Weg, wie das Kind sich unbewusst selbst hilft, um sich die vorgegebene Leiblichkeit für die eigene Persönlichkeit zuzubereiten. Krankheiten können ein Weg sein, wie das Kind seinen Körper noch einmal ein wenig zum bessern Gebrauch umarbeitet. Daher zeigt sich nach der Erkrankung nicht selten ein Entwicklungsschub des Kindes.
Die Eltern, hauptsächlich aber auch der begleitende Arzt sind dafür verantwortlich, dass das Kind in den ersten sieben Jahren und auch danach gut in den Weg zu sich selbst hineinfindet, um dann Schritt für Schritt zu dem zu kommen, was es als Erwachsener einmal werden kann.
1 Die Liste der empfohlenen Nahrung ist erhältlich unter rspaed@anthromed.at
Foto: Bixabay
