Warum die aktuelle Lage das Instrument der Volksabstimmung nahelegt
Text: Reinhard Apel
Brauchen wir mehr Demokratie?
Wir alle erinnern uns an die einschneidenden Maßnahmen der Coronazeit. Hier bekamen wir einen deutlichen Hinweis, wie notwendig die direkte Demokratie in bestimmten Situationen sein kann. Denn mit einem Mal war die repräsentative Demokratie nicht mehr geeignet, den Willen der Bürger sicher umzusetzen. Um das zu verstehen, braucht es einen kurzen Exkurs zur Architektur unserer Demokratie.
Demokratie
Von Demokratie sprechen wir dann, wenn die Bürger nicht einfach nur regiert werden, denn das werden sie auch in einer Monarchie. Im Rahmen der Monarchie gibt es durchaus geordnete Strukturen, die das staatliche Leben aufrechterhalten, für Recht und Ordnung sorgen und Tulmulte in den Straßen auflösen. Auch ein König hätte eine Impfpflicht beschließen und durchsetzen können. Karl Lauterbach hätte dann wohl Carolus von Lauterbach geheißen und wäre einem deutschen Adelsgeschlecht entsprossen. In der Demokratie jedoch soll der Bürger durch Wahlen seine Regierung berufen. Nur dadurch erhält eine Regierung und ein Staatswesen die demokratische Legitimation.
REPRÄSENTATIVE DEMOKRATIE
Die Bürger wählen turnusmäßig Abgeordnete als ihre Repräsentanten. Ein Abgeordneter repräsentiert dann eine gewisse Anzahl Stimmen von wahlberechtigten Einwohnern eines Gebietes, zum Beispiel eines Landes. Man sagt dann, die Wähler haben ihren Willen auf die Abgeordneten übertragen. Die Abgeordneten sind also die eigentlichen Träger des Wählerwillens. Damit sind nur sie demokratisch voll legitimiert.
Parteien
Abgeordnete organisieren sich traditionell in Parteien. Dadurch kommt einerseits mehr Übersichtlichkeit zustande, das wohl. Andererseits werden die Abgeordneten der Parteidisziplin unterworfen. Das hat auch fragwürdige Folgen, weil der Repräsentant dann nicht mehr nur seinem Willen und dem Willen seiner Wähler zu entsprechen hat, sondern er stimmt im Parlament (dem Abgeordnetenhaus) entsprechend der Parteilinie ab. Der eigentliche Träger der Macht bleibt aber der Abgeordnete. So regelt es die Verfassung. Das wird dann bemerklich, wenn ein Abgeordneter sich aus der Parteiordnung löst und zu einem sogenannten wilden Abgeordneten wird. Dies ist eine unglückliche, ja tendenziöse Bezeichnung. Wildwuchs muss man ja hintanhalten! Man könnte gleichwohl die Bezeichnung freier Abgeordneter wählen. Man könnte sogar sagen, man hat dann die Erscheinungsform des Abgeordneten vor sich, den die Verfassung eigentlich meint. Das Parteienwesen bringt somit ein verwaschenes und verwischendes Element ins Bild. Ein Beispiel: Viele glauben, sie wählen am Wahltag z.B. die Sozialdemokraten. In Wahrheit wählen sie die Abgeordneten, welche von den Sozialdemokraten auf einer Liste gereiht wurden. Nur dadurch, dass sich die Abgeordneten der Partei, die sie aufgestellt hat, gegenüber in der Folge loyal zeigen, man könnte auch sagen unterordnen, bekommt eine Partei durch ihre Abgeordneten im Parlament Macht und Einfluss.
Es ist in der Praxis schwierig ohne Anschluss an eine Partei, die notwendige Bekanntheit zu erlangen, die zur Wahl als
führt.
Regierungsbildung
Regierungsverhandlungen (die Suche nach stabilen Mehrheiten) sind also insofern ein zweischneidiges Schwert, als sie das an sich bewegliche Abstimmungsverhalten der Abgeordneten festlegen. Abstimmungen unter Volksvertretern sind dann in ihrem Ergebnis vorgeplant, solange die Regierung „hält”. Ganz anders wäre das Bild, würden die Abgeordneten bei Abstimmungen frei in ihrem Stimmverhalten sein. Im günstigsten Fall wären sie dann nur ihrem Gewissen verpflichtet und desgleichen würden sie wohl noch an die Intentionen ihrer Wähler denken. So sieht es eigentlich die Verfassung vor. Dann wäre die Parlamentsdebatte eine echte Debatte mit offenem Ausgang. Das bedeutet, es wäre tatsächlich möglich, dass die brilliante Argumentation, sagen wir des Abgeordneten „Bschemisl” seine Kollegen so weit überzeugt, dass ein anderer Beschluss zustande kommt, als die Parteihauptquartiere es beabsichtigen. Aber nur selten heben die Parteiführer die Parteidisziplin auf und ermöglichen so eine Abstimmung mit offenem Ausgang. Diese würde ja die vorangegangenen Koalitionsverhandlungen in ihren Augen entwerten.
Alternativen zu Koalition und Klubzwang
Auf die aktuelle Situation Bezug nehmend sei am Rande vermerkt, dass es ja durchaus Alternativen gab zu entweder schwierigen Koalitionsverhandlungen oder Neuwahlen im Rahmen der jüngst stattgefundenen Regierungsbildung in Österreich. > Einerseits hätte man auch mit Klubzwang und festgelegtem Abstimmungsverhalten innerhalb des Parteienwesens mit wechselnden Mehrheiten arbeiten können. Das bedeutet, je nach Thema hätten andere politische Fraktionen für eine Mehrheit im Parlament gesorgt. Die Verfassung verlangt ja nur, dass eine Mehrheit von Abgeordneten ein Gesetz beschließt. Sie besagt nicht, wie sich diese Mehrheit zusammensetzt. > Andererseits könnten die Abgeordneten auch frei und über die Parteigrenzen hinweg Mehrheiten suchen. Die Welt stürzte nicht ein. Es müsste sich allerdings ergeben, dass das Parlament auf diese Weise die anfallenden staatlichen Aufgaben bewältigt. Einen Versuch wäre es wert. Nur die Ergebnisse der Abstimmungen würden an Berechenbarkeit verlieren. Lobbyisten hätten natürlich die Unsicherheit, bei wem sie ihr Anliegen vorzubringen haben. Ein Nachteil?
DIREKTE DEMOKRATIE
Die direkte Demokratie kennt mehrere Vorgehensweisen, die in unserer geltenden Verfassung stehen.
Volksabstimmung
Hierbei wird über eine bestimmte Fragestellung abgestimmt. Diese ist auf wenige Worte reduziert und betrifft nur einen Punkt der politischen Arena. „Sollen die Corona Maßnahmen beibehalten werden?”, wäre eine solche Fragestellung gewesen. Der Art der Volksabstimmung, welche die österreichische Verfassung vorsieht, ist jedoch der Zahn in zweierlei Hinsicht gezogen:
a) Sie kann nur vom Parlament auf den Weg gebracht werden. Insofern ist es eine Volksabstimmung „von oben”. Die Wähler können nur hoffen, dass die Parlamentarier diesbezüglich auf gute Ideen kommen. Es kann keine Volksabstimmung auf diese Weise vom Bürger unmittelbar initiiert werden. Da die Abgeordneten des Parlaments natürlich gerne die Entscheidungsvollmacht ausüben, greifen sie nur in Ausnahmefällen zur Volksabstimmung. Das geschah in der zweiten Republik zwei Mal.
• Die Zwentendorf – Volksabstimmung ist nicht so ausgegangen, wie der politische Mainstream es erwartet hatte. Aus der Sicht der Regierenden lag ihr eigentlicher Sinn darin, die Angelegenheit endgültig und besonders volksnah für die Atomenergie zu entscheiden.
Ich gehe davon aus, dass den politischen Parteien damals klar wurde, wie wenig der Ausgang von Volksabstimmungen vorausgesehen werden kann. Und das von da ab die Freude daran sehr gering war, sich vom Volk sagen zu lassen: „Ihr seid schlechte Volksvertreter im Parlament. Denn ihr hättet für „A” gestimmt, wir aber wollten „B”.”
• Die EU – Volksabstimmung als einziger weiterer Fall einer Volksabstimmung in der Zweiten Republik war unvermeidlich. Die Volksvertreter waren von der Verfassung angehalten, zu diesem Instrument zu greifen. Diesmal ließ man nichts anbrennen. Die Begleitung des Themas in den Medien war viel weniger ergebnisoffen als 1976. Es wurde dem Bürger wieder und wieder erklärt, dass die Europäische Union alternativlos sei. Dennoch, der Bürger hätte auch „Nein” sagen können.
b) Das Ergebnis dieser Art Volksabstimmung ist nicht bindend. Das bedeutet, es kann das Parlament das Abstimmungsergebnis auch zum Irrtum erklären und einen abweichenden Beschluss im Parlament fassen. Die Begründung könnten „populistische” Tendenzen sein, die ein Ergebnis bewirkt haben, das dem Willen der (parteigebundenen) Abgeordneten widerspricht. Man erinnere sich an die Debatte nach der Volksabstimmung zum EU – Austritt in Großbritannien. Damals gab es gewichtige Stimmen in den Medien, die verlangten, das Parlament in London solle gegen das Abstimmungsergebnis den Verbleib in der EU sicherstellen. Man darf nicht übersehen, dass dies grundsätzlich möglich gewesen wäre. Diese Variante der Volksabstimmung ist also dazu angetan, alle Macht im Parlament zu belassen. Das Volk hat nur dann die Möglichkeit, seinen Willen außerhalb von Parlamentswahlen in demokratischer Weise kundzutun, wenn die Abgeordneten es zulassen. Es sei vorweggenommen, dass also eine Volksabstimmung, die diesen Namen wirklich verdient eine Volksabstimmung „von unten” sein muss. Sie muss vom Bürger selbst bewirkt werden können, auch ohne Zustimmung der Parlamentarier, sonst kann sie deren Absichten nicht korrigieren. Und ihr Ergebnis soll binden sein, damit anschließend ein Gesetzesbeschluss folgen kann.
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Volksbegehren
Wir neigen heute dazu das Volksbegehren mit der Volksabstimmung zu verwechseln. Bei diesem sind nicht alle Wähler zu den Urnen gerufen, sondern nur die Unterzeichner nehmen teil. ?Somit kann behaupten werden, die Unterzeichner eines Volksbegehrens wären nur eine laute Minderheit und die schweigende Mehrheit sei genau gegensätzlicher Meinung. Dadurch ist ein Volksbegehren eben kein Volksentscheid. Verstärkend kommt noch hinzu, dass ein Volksbegehren ab einer bestimmten Unterzeichnerzahl zwar im Parlament verlesen werden muss, die Abgeordneten brauchen es aber weiter nicht zu beachten. Es gibt keine Debatte darüber. Und der Inhalt eines Volksbegehrens wird auch nicht abgestimmt. Wäre zumindest dieser Punkt anders, das Volksbegehren wäre aufgewertet. Denn dann wüsste man für kommende Wahlen, wie die Parteien dazu stehen. Es entsteht also der Eindruck, der Wille des Volkes soll während einer Legislaturperiode von den Abgeordneten möglichst ferngehalten werden. Kurz: Das Volksbegehren hat keinerlei bindenden Einfluss. Interessant am Volksbegehren ist allerdings, dass es leicht von unten initiiert werden kann.
Volksbefragung
Das ist eine Möglichkeit „von oben” das Volk darüber zu befragen, wie es denkt. Natürlich so, dass die Parlamentarier an das Ergebnis nicht gebunden sind. Sonst wäre es eine Volksabstimmung mit bindendem Charakter. Würde dieses Instrument häufig eingesetzt, es wäre dennoch nicht wirkungslos. Denn dann könnte es sein, dass eine Regierung
permanent Beschlüsse fasst, die im Gegensatz zu ständig stattf indenden Volksbefragungen stehen. Das ergäbe eine schiefe Optik. Und – man möchte sagen deshalb – wird die Volksbefragung ganz selten durchgeführt. Hätte das österreichische Parlament etwa 2021 zur Impfpflicht eine Volksbefragung abgehalten, dann wäre das eine machttechnische Unsinnigkeit gewesen. Denn das Parlament hätte dann bestimmte Beschlüsse gefasst und zugleich wäre klar gewesen, dass diese keine Mehrheit unter den Österreichern haben. Es ist doch nicht so ganz ohne Gefahr, den Menschen klar zu sagen: Ihr seid unwissend und unmündig, daher müssen wir euch ja regieren.
Fazit
ÄpVolksbegehren und Volksbefragung sind nicht uninteressant, haben jedoch keine Gestaltungsmacht. Selbst diejenige Variante der Volksabstimmung, die in der Verfassung vorgesehen ist, hat sie nicht wirklich. Denn immer noch liegt das letzte Wort beim Parlament. Es könnte höchstens sein, dass im Falle der EU- Abstimmung das Ergebnis der Volksabstimmung positiv sein musste, um der Europäischen Union beitreten zu können. Dann war dies der einzige Fall in der Zweiten Republik, in der eine „echte” Volksabstimmung vorlag. So viel zum Fehlen der Volksabstimmung von unten als demokratischem Mittel, den Willen der Bürger zum Ausdruck zu bringen. In der nächsten Ausgabe wird dann die „echte” Volksabstimmung dargestellt. Weiters wird besprochen, inwiefern die Corona-Krise sowie sofort nachfolgend die Ereignisse in der Ukraine überraschend deutliche Lehrbeispiele sind, welche die Sinnhaftigkeit der Volksabstimmung von unten illustrieren.
Der gefühlte Grundkonsens
Das Volk regiert und auch wieder nicht, denn die Bürgerinnen und Bürger können in freien und geheimen Wahlen ihre Repräsentanten bestimmen. Dann aber – wenn die Wahl vorbei ist – werden sie regiert. Sie werden von einer Regierung regiert, die durch die Mehrheit der gewählten Repräsentanten gestützt wird. Nach den Wahlen ist es dann wieder vorbei mit der allgemeinen Mitbestimmung. Zumindest findet diese danach nur sehr gefiltert in Parteien und Verbänden statt, falls man sich dort Gehör verschaffen kann.
Normalerweise fällt uns gar nicht auf, wie stark wir zwar durch gewählte Repräsentanten aber in einer Legislaturperiode streng von oben regiert werden. Die Bürger sagen da nichts mehr. Wir verlassen uns auf einen gesellschafltichen Grundkonens. Er beinhaltetet die liberalen Freiheiten (Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit). Viele Grundrechte und auch alles das, was sich eine sich entwickelnde Gesellschaft gerade als positiv und wünschenswert ansieht. So hat sich etwa zu einem bestimmten Zeitpunkt das Wahlrecht für die Frau etabliert, das heute wohl jeder als richtig empfindet. Überhaupt vertrauen wir auf den ausgleichenden Charakter und das konsensuale Verhalten in der öffentlichen Verwaltung.
Und das ist es eben. Besagter Grundkonsens steht im Wesentlichen nicht in Gesetzestexten, kann nicht allein dort seine Wurzeln haben. Er muss allgemein als stimmig empfunden werden und mit dem Gefühl des wechselweisen Vertrauens einhergehen. Denn was würde man machen, wenn etwa für einen ordentlichen Teil der Wählerschaft der säkulare Staat keine Selbstverständlichkeit mehr wäre. Das säkulare Element, also das Hereinnehmen der Religion in die reine Privatsphäre hat sich ja bei uns in Europa in Natürlichkeit ergeben als die Folge einer organischen Entwicklung durch Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte. Die Entwicklung ging im Ganzen schön Schritt für Schritt, wenn auch nicht reibungslos. Nur ein Schwarzseher knann denken, diese schöne Selbstverständlichkeit wird einmal in Frage gestellt, sollte man doch meinen. Doch – hast Du nicht gesehen – der Eiserne Vorhang fällt. Großartig! Die Globalisierung und weltweite Reisefreiheit kommt in Gang. Auch recht fein. Und dann sind irgendwann so viele noch ganz ins religiöse Element getauchte Muslime hier, dass die Nebenrolle der Religion eben keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Hm … nicht mehr ganz so positiv.
Also, jetzt haben wir da unsere gute und gediegene repräsentative Demokratie, aber nicht mehr so ganz den notwendigen Grundkonsens. Man sieht also: Was gestern noch rund lief, kann ins Stocken kommen.
Die Covid Zeit als auffallender demokratiepolitischer Sonderfall
Allgemein dachte man doch, eine wirklich autoritäre staatliche Geste ist heutzutage nicht zu erwarten – also eine Aktion des Staates, die nicht ausführlich begründet wird und den Konsens mit der Bürgerschaft nicht sucht. Doch da kommt ein Virus geflogen, setzt sich nieder auf mei Nas … und schon hamma das. Auf einmal erweist sich die gewohnte repräsentative Demokratie als mangelhaft. Denn die Abgeordneten sind zwar ganz legitim gewählt, bloß ist keiner von Ihnen vom Wähler auserkoren worden, um einen Virus radikal auszurotten. Man darf ruhig sagen: Niemand, der bei den Nationalratswahlen vor Covid gewählt hat (2019), tat dies in Hinblick auf eine Pandemie, sei sie nun aufgebauscht oder nicht. Die Abgeordneten fanden sich in der Coronazeit auf einmal zu härtesten Maßnahmen veranlasst, ohne sich je mit dem Wähler besprochen zu haben. Denn das Thema „Todesvirus” gab es zum Zeitpunkt der Wahl nicht. Das ist normalerweise nicht der Fall. Wir haben zuvor nachgedacht über die Themen über die wir abstimmen oder hätten zumindest nachdenken können.
Covid war demokratiepolitisch sehr exotisch. Wer sonst zum Beispiel Grün wählt, sollte nicht aus allen Wolken fallen, wenn seine Stimme dann als Votum gesehen wird, um Parkplätze in Radwege umzuwandeln. Aber wer um Himmels willen konnte denn erwarten, dass man sich, wenn man grün wählt, einen Piecks mit einem experimentellen Impfstoff einhandelt. Dieser wiederum von einer Pharmafirma entwickelt, die auf einmal ein Bombengeschäft macht, aber nicht die normale Verantwortung für ihr Produkt übernehmen muss. Meine Grünstimme von 2019 war sicher nicht so gemeint. Ein sonderbarer demokratiepolitischer Fall war die Coronazeit ab 2020. Denn hier lag ja für keinen der gewählten Abgeordneten irgendwelcher Colour ein Votum für Pandemiemaßnahmen vor. Also hatten wir – streng genommen – inhaltlich gar keine Repräsentanten. Die Abgeordneten haben auf das zzurückgegriffen, was ich in der letzten Ausgabe die Generalvollmacht genannt habe. Sie dürfen nämlich auch dann regieren, wenn unvorhergesehen Umstände eintreten. Um das hervorzuheben, um eine Situation zu proklamieren, die einem Krieg ähnlich ist, hat beispielsweise der französische Präsident Emmanuel Macron den Satz geprägt: „Nous sommes en guerre contre le virus.“ (Wir sind im Krieg gegen das Virus). Das ist dieses Berufen auf die Generalvollmacht, auf die Ausnahmesituation, die keine Zeit lässt, eine solide Willensbildung in der Wählerschaft zu schaffen.
Setzt man nun eine allgemeine liberale und demokratiefreundliche Stimmung in der politischen Klasse voraus, dann hätte sich eigentlich nach einiger Zeit der Sondermaßnahmen bei den Parlamentariern die Stimmung ergeben müssen, dass sie sich zusätzlich zu ihrer formell vorhandenen Sonderlegitimation, eine inhaltliche Zustimmung der Wählerschaft zu sehr speziellen Maßnahmen verschaffen sollten. Unsere Verfassung kennt das Instrument dazu: Die Volksabstimmung „von oben”. Die ist die einzige Form der Volksabstimmung, die die österreichische Verfassung vorsieht: Also eine Volksabstimmung, welche die Abgeordneten selbst in die Wege leiten. Sie können das, die Bürger selbst können es nicht. Das wäre „von unten“. Der Schönheitsfehler der Volksabstimmung „von oben“ ist zusätzlich, dass das Ergebnis für die Abgeordneten nicht bindend ist. So waren die Abgeordneten zwar gut beraten, das Ergebnis der Volksabstimmung über die Atomenergie von 1976 zu respektieren, sie mussten aber nicht. Die Machthabenden damals haben den Willen des Volkes anerkannt und danach gehandelt. Das soll man nicht übersehen. Im letzten Heft ist ausführlich besprochen worden, dass ein Volksbegehren ein Art Appell ans Parlament darstellt. An das ist ein Abgeordnetenhaus schon gar nicht gebunden. Ein Volksbegehren hat keine Gestaltungsmacht. Es kann nur in die Realität hineinwirken, wenn die Repräsentanten in ihren Kammern geneigt sind, seine Zielrichtung zu übernehmen. Sie, die Abgeordneten, haben in einer Legislaturperiode das alleinige Sagen, was Gesetze und ähnliche Beschlüsse betrifft. Einmal gewählt, gestalten nur mehr die von ihren Parteien eingesetzten Volksvertreter. Die Volksbefragung ist überhaupt nur eine Befragung. Ihr Ergebnis zeigt eine Stimmung an, hat aber sonst keine direkte Auswirkung.
Kriterien für die Volksabstimmung „von unten“
Die Coronazeit war also demokratiepolitisch ein höchst ungewöhnliches Lehrbeispiel für die Sinnhaftigkeit des Volksentscheides, für die Volksabstimmung „von unten“ also. Diese kann so gedacht werden, dass sie aus einem Volksbegehren hervorgeht, dass erst einmal eine bestimmte Zahl von Unterzeichnern erreichen muss. Als weitere Einschränkung wäre denkbar, dass es nicht um Inhalte gehen soll, die in kurz vorher stattgefundenen Wahlen entschieden worden sind.
Das dies eben bei den Nationalratswahlen 2019 gerade nicht der Fall war, stellt diese besondere Charakteristik der Coronafrage als Politikum dar. Eine Charakteristik, die in den Jahren davor wahrscheinlich abstrakt und konstruiert gewirkt hätte, wäre man in so einer Lage für die Direkte Demokratie zu argumentieren geneigt gewesen. Ein Thema ist nämlich dann für die Volksabstimmung „von unten“ besonders geeignet, wenn
– es jedermann betrifft und zwar existentiell
– es das dominierende gesellschaftliche Thema zu einem bestimmten Zeitpunkt ist, das alle anderen in den Schattenstellt.
– es gerade über dieses Thema keine Willensbildung der Wählerschaft vor den letzten großen Wahlen gegeben hat.
– noch der originelle Zusatzeffekt vorhanden ist, dass das Thema kurz davor nicht vorhanden war.
Durch Punkt 3 und 4 waren nämlich die Abgeordneten im Moment der Krise nur formell aber keineswegs inhaltlich legitimiert. Sie waren für alles Mögliche vom Bürger gewählt worden, bloß dafür nicht, was sie nun konkret umsetzten. Und mit diesem „Umsetzen” griffen sie auch noch bis in die allerpersönlichste Privatsphäre ein und weichten die Grundrechte der Bürger auf. Weiters ist die Coronazeit ein demokratiepolitisches Lehrbeispiel dadurch, dass
– alle Parteien plötzlich eine Einheitslinie fahren, die jede Differenzierung vermissen lässt. Dies ist in dieser Deutlichkeit wirklich eine auffällige Besonderheit der Coroanzeit.
– sich nur eine einzige Partei gegen die allgemeine Politik positioniert hat. Diese Partei hat aber wieder andere Aspekte in Ihrem Programm, die viele Skeptiker der Coronamaßnahmen nicht unterstützen wollen. Mit einer Volksabstimmung kann man also das große Überthema, um das es sich hier handelt, aus dem Ideenmix, den die Parteiprogramme bereitstellen, herausfiltern und isoliert abstimmen. Damit wirken Parteiloyalitäten weniger in die Willensbildung der Abstimmenden hinein.
– die Medien als diskursfordernde und mäßigende Kraft ausfallen. Im Gegenteil, sie beteiligen sich fast ausnahmslos an der staatlich organisierten Corona-Kampagne, ganz wie es sonst in Kriegszeiten der Fall ist.
Kurz gesagt, hätte uns eine Volksabstimmung „von unten“ mit bindendem Charakter, – also ein Volksentscheid – wieder in den Stand der demokratischen Mitbestimmung gesetzt, die einer entwickelten -Demokratie entspricht. Hätten jedoch genug Bürger ein vorangehendes Volksbegehren, dass in Folge- zur Volksabstimmung wird, unterschrieben? Mit hoher Wahrscheinlichkeit: ja. Die Demokratie soll ja sicherstellen, dass nicht ein weisheitsvoller Monarch oder ein netter Diktator regiert und verwaltet – wie das ja auch in einer Ökodiktatur der Fall ist. Demokratie heißt mindestens, dass die Bürger „ja” oder „nein” zu essentiellen Fragen des öffentlichen Lebens sagen können. Dann gilt der Mehrheitsentscheid und der Wille der Mehrheit wird Gesetz.
So wie sich die politischen Handlungsweisen in der Coronazeit entwickelt haben, waren sie nur formell, nicht aber inhaltlich demokratisch legitimiert. In so einem Fall hätte es den Volksentscheid als Instrument gebraucht. Wir hatten ihn aber nicht, unsere Verfassung sieht das nicht vor. Vielleicht sollten vielmehr Menschen die Coronazeit auch in ihrem demokratiepolitischen Aspekt nachwirken lassen. Dann ergibt sich eventuell die Einsicht in die Sinnhaftigkeit der Volksabstimmung „von unten” – zumindest zu bestimmten Zeiten. Von genug Menschen gründlich und in innerer Freiheit verstanden, können wir vielleicht das, was es diesmal nicht gegeben hat, beim nächsten oder übernächsten Anlassfall als demokratisches Instrument einsetzen. Beim Frauenwahlrecht hat es ja auch geklappt.
Noch einen Vorteil hat die Direkte Demokratie. Die Bürger können ihren Willen zu einzelnen Fragen darstellen und dann die Umsetzung verlangen. Es käme weniger zu einer Verwaschung des Mehrheitswillens, indem eine Partei (mit ihren Repräsentanten) für das Eine gewählt wird und fünf andere Punkte, denen man nicht zustimmt, im selben Atemzug legitimiert sind. Für mich ist es äußerst unbefriedigend, dass eine Corona skeptische Haltung, deren inhaltliche Komponente gesondert darzulegen -wäre, bei Wahlen nur dadurch wirksam werden kann, wenn man sein Kreuzerl bei einer rechtsstehenden Partei macht. Es gibt für unerwünschte Nebenwirkungen keine Abhilfe beim Arzt oder Apotheker.