Text und Fotos: Norbert Liszt
Atmosphärische Farben
Bevor die Sonne am Horizont erscheint, schickt sie ihr Licht voraus. Wir blicken durch dämmrig dunkle Luftschichten und erleben ein eindrucksvolles Farbenspiel, die Morgenröte. Wenn die Sonne dann erscheint, sehen wir sie als gelbe Scheibe (oberes Bild). Das Rot der Atmosphäre erhellt sich zu einem Orange, bis es schließlich verschwindet. Die Luft hat das Licht in seiner Wirkung gedämpft. Folge dieser Verdunklung ist die Rotfärbung der Atmosphäre. Fällt der Verdunklungsfaktor weg, wird die Sonne zur gleißend-weißen Lichtquelle.
Das Rot-Orange-Gelb-Spektrum ist mit dem Licht verwandt, ist also gemildertes Licht.
Wenn die Sonne höher steigt, erhellt sie die Luft und das Farbenspiel des Morgens löst sich auf. Blicken wir dann in den wolkenlosen Himmel, sehen wir ein helles Blau (mittleres Bild).
Kommt man in den Genuss, über den Wolken im Flugzeug unterwegs zu sein, und blickt nach oben, erscheint der Himmel dunkelblau – ein Zeichen dafür, dass man durch dünnere Luftschichten in den dunklen Weltraum schaut. Je höher man steigt, desto dunkler wird das Blau. Lässt man den Blick zum Horizont schweifen, wird der Unterschied offenbar (unteres Bild).
In der Nacht, wenn das Licht der Sonne verschwunden ist, erfahren wir, dass uns die Luft die Dunkelheit des Weltalls verhüllt hat. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Farbe Blau eine Verwandtschaft mit der Dunkelheit, dem Schwarzen hat. Sie ist nur graduell von diesem verschieden. Durch diese Tatsache wird klar, dass die Finsternis nicht einfach die Abwesenheit von Licht ist, sondern eine Wirkmacht besitzt. Sie ist nicht ein absolutes Nichts, denn wir nehmen Finsternis wahr, wie wir Helligkeit wahrnehmen. Wäre Finsternis ein Nichts, könnten wir sie nicht wahrnehmen. Finsternis kann das Licht in seiner Wirkung schwächen, umgekehrt kann Licht die Wirkung der Finsternis herabsetzen. In beiden Fällen entsteht Farbe.
Auch die blauen Berge zeugen vom gleichen Phänomen. Sie erscheinen blau, da sie so weit entfernt sind, dass sie kein Licht mehr zu uns reflektieren können. Das Prinzip ist das gleiche, wie beim Blick in den Himmel – man sieht Dunkelheit durch die erhellte Luft.
Newtons Anschauung geht davon aus, dass die Finsternis etwas Unwirksames ist und leitet daher die Farben allein aus dem Licht her³.
Gegensätze
Die beiden Gegensätze – Morgen-/Abendrot und Himmelsblau offenbaren uns das Grundgesetz der Chromatik.
Licht durch Dunkelheit = rot (orange, gelb)
Dunkelheit durch Licht = blau (Indigo, violett)
In beiden Fällen wirkt die Luft als trübendes Mittel. Indem die Luft das Licht in sich aufnimmt und es in sich verteilt, dämpft sie dessen Wirkung und ermöglicht uns die Wahrnehmung der farbigen Welt.
Dazu Goethe: „Das Höchste wäre: zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre“.⁴
In Versuchen kann das Grundgesetz der Farbentstehung geprüft werden.
Hier am Beispiel der Verdunklung: Man nehme eine Lampe und drei Stück weißes Papier. Zuerst verdeckt man die Lampe mit einem Blatt, dann mit dem zweiten und dritten. Man wird bei diesen drei Schritten eine Steigerung der Farbentwicklung wahrnehmen – von gelb über orange zu rot.
Farben sind Taten und Leiden des Lichts¹
Das Licht fällt auf einen Körper, der die Strahlen auffängt und davon abhält weiter zu strahlen. Der dadurch entstandene Schatten ist grau, nicht schwarz, da die Luft im Allgemeinen erhellt ist und somit auch den Schatten aufhellt. Daran zeigt sich die Wechselwirkung von Licht und Finsternis.
Diese Wechselwirkung schenkt uns auch den Zauber der Farben. Ein Körper empfängt das Licht und strahlt es in verwandelter Form in den Raum zurück. Was von der Oberfläche des Körpers reflektiert wird, kann man als Schatten des Lichts bezeichnen. Es ist abgedunkeltes Licht bzw. aufgehellte Finsternis. Goethe nennt die Farben Halblichter oder Halbschatten. Ein physisches Ding hat dem reinen Licht etwas abverlangt, was Goethe als Leiden des Lichts charakterisiert. An der Oberfläche von Körpern zeigt sich die Farbe, welche die innere Beschaffenheit des stofflichen Mittels zum Ausdruck bringt.
Farben sind also den Schatten verwandt. Sie verhalten sich wie grau, sind heller als schwarz und dunkler als weiß. Das Zusammenstimmen der Polaritäten Licht und Finsternis bewirkt eine Steigerung der Erscheinung. Resultat dieser Steigerung ist die Farbe.
Kriterien der Farbentstehung:
- Licht und Schatten müssen vorhanden sein.
- Es muss ein Wahrnehmungsorgan für die Farbempfindung geben – unser Auge. Entoptische Wahrnehmungen sind Erscheinungen, die durch die Anatomie des Augeninneren objektiv bedingt sind.
Das Auge bildet sich am Licht für das Licht.
Wär‘ nicht das Auge sonnenhaft,
die Sonne könnt‘ es nie erblicken;
Läg‘ nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
wie könnt uns Göttliches entzücken?²
- Katoptrik: Farben entstehen, wenn sich dem Licht etwas entgegenstellt und es reflektiert wird. Erst am Stoff bilden sich die Farben. Der Spiegel reflektiert das Licht komplett. Alle anderen Stoffe entnehmen dem Licht etwas und je nach der inneren Struktur des stofflichen Mittels strahlen sie diese oder jene Farbe zurück.
- Farbentstehung durch trübe Mittel, z.B. durch die Luft (wie oben beschrieben).
- Dioptrik: Farberscheinungen werden durch Lichtbrechung, -beugung, -ablenkung, z.B. mithilfe eines durchsichtigen Gegenstandes – eines Prismas oder einer Lupe sichtbar.
Welle-Teilchen- und Hell-Dunkel-Dualismus
Immer wieder wird die Frage gestellt, ob nicht beide Farbenlehren richtig sein könnten. Newton geht davon aus, dass Licht Teilchencharakter hat, und sich die Farben, die im Licht enthalten sind, mit der Ablenkung bzw. Brechung des Lichts (im Prisma-Versuch) im Farbspektrum zeigen. Aufgrund spezieller Versuchsanordnungen meinen Physiker, beweisen zu können, dass dem Licht Bewegungsvorgänge zugrunde liegen und es sowohl Teilchen- als auch Welleneigenschaften hat.
Thomas Young beweist mit dem Doppelspalt-Experiment von 1801, dass das Licht Wellencharakter hat. Doch der photoelektrische Effekt von Albert Einstein beweist etwas anderes, nämlich dass Licht doch Teilcheneigenschaften besitzt. Beide Experimente gehen davon aus, dass die Farben dem Licht immanent sind.
Goethe dagegen findet, dass sich die Farben wie oben dargestellt aus der Hell-Dunkel-Polarität und deren Steigerung ergeben.
Wenn wir also annehmen, dass Licht sowohl Teilchen- als auch Welleneigenschaften hat, dann wären die Farben einfach Phänomene, die sich aus Bewegungsvorgängen – den Wellenbewegungen und/oder den Bewegungen der Teilchen – ergeben. Wir sehen aber Farben und die Farben wirken auf uns. Rot empfinden wir als warm und anregend bis aggressiv, Blau vermittelt das Gefühl von Ruhe und Kälte, Grün dagegen wirkt ausgleichend und wir erleben Befriedigung. Das bedeutet, dass wir nicht einfach Konsumenten der äußeren Eindrücke sind, sondern diesen Eindrücken mit einer seelischen Resonanz begegnen. Wie arm wäre unser Leben, würden wir statt Farben Wellen- oder Teilchenbewegungen wahrnehmen?
Wenn die Wissenschaft annimmt, dass Bewegungsvorgänge (Wellen und Teilchen) etwas mit der Farbentstehung zu tun haben, wäre noch zu klären, ob sie die Ursache sind oder ob es nicht die Farben sind, die sich der Bewegungselemente bedienen, um zu erscheinen. Diesbezüglich bietet sich der Vergleich mit den Tönen an. Sind es die Töne, die die Schallwellen formen? Im Sänger tönt es, bevor er die Töne von sich gibt. In diesem Fall ist es klar, die Töne kleiden sich in Schallwellen. Und der Zuhörer? Kommt bei ihm Musik an oder Schallwellen, die er in sich erst zu Musik formt?
Bewegungsvorgänge und Farbempfindung
Nimmt man nun an, dass Bewegungsvorgänge die Ursache sind und im Körperinneren zu Farbempfindungen metamorphosiert werden, dann wäre damit folgendes Argument verbunden: Ein äußerer objektiver Vorgang in Form von Wellen- und Teilchenbewegungen wird im Körperinneren zu einem subjektiven Vorgang. Was man allerdings als objektiven Vorgang bezeichnet, ist für unsere Sinne nicht wahrnehmbar, ebenso der subjektive Prozess in unserem Sinnes-Nerven-System. Damit würden zwei unwahrnehmbare Vorgänge zur Wahrnehmung der Farbe Rot führen. Man muss aber annehmen, dass alle Menschen mit gesundem Sehsinn Rot sehen, wenn ihnen ein rotes Blatt Papier vorgelegt wird. Das würde bedeuten, dass sich die Licht-Teilchen oder -Wellen auf unser Sinnesorgan zubewegen, sich dort durch unser Nervensystem ins Gehirn fortsetzen, irgendwo auf diesem Weg zur Farbempfindung modifiziert werden und schließlich zu einem objektiven Ergebnis führen. Denn wollten wir behaupten, die Farbempfindung sei subjektiv, wie könnte unsere Empfindung mit der Empfindung anderer Menschen übereinstimmen? Bliebe es bei der Subjektivität der Erfahrung, lebte jeder in seiner eigenen Welt. „… dann könnten die gesetzmäßigen Zusammenhänge des Qualitativen (der Farben) auch nicht in der Außenwelt gesucht, sie müssten aus dem Wesen der Sinneswerkzeuge, des Nervenapparates und des Vorstellungsorganes abgeleitet werden. Die Elemente der (Empfindungs-) Vorgänge wären dann nicht Gegenstand der physikalischen Untersuchung, sondern der physiologischen und psychologischen.“³.
Es ist nicht sinnlich wahrnehmbar, „wie“ sich die Farbe Rot in die beschriebenen Bewegungsvorgänge kleidet und auch nicht, wie sie sich im Wahrnehmungsprozess bis zum Auge, vom Auge weiter durch das Nervensystem bis zum entsprechenden Gehirnareal bewegt und dort angekommen als Rot empfunden wird. Nur das Denken kann diese Einzelprozesse in Verbindung bringen, indem es der Wahrnehmung die richtigen Begriffe beifügt.
Die Phänomenologie Goethes vertraut unserer Wahrnehmung und dem sich an sie anschließenden Verstand. Auf diesem Weg ergibt sich der Hell-Dunkel-Dualismus der Farbentstehung. Goethe sucht nichts hinter den Phänomenen und findet im faktisch Gegebenen die Theorie, die in vielen Versuchen ihre Bestätigung erfährt. Anschauende Urteilskraft nannte Goethe die Fähigkeit, durch genaueste Beobachtung und streng am Phänomen gehaltene Gedankenführung, die richtigen Zusammenhänge zu finden. Er vermeidet es, von der Beobachtung zu schnell ins Verstehen zu wechseln. Das Urteil muss sich immer vor der Anschauung rechtfertigen und der Verstand muss die Sinne wachhalten. Wird eine Theorie formuliert, muss sie den Versuchsergebnissen standhalten. Beobachtung, Verstehen und Versuch sollen einander zuspielen.
„Meine Farbenlehre ist schwer zu überliefern, denn sie will, wie Sie wissen, nicht bloß gelesen und studiert, sondern sie will getan sein, und das hat seine Schwierigkeit“.⁵
„Die Goethesche Weltanschauung kann nur zwei Quellen für alle Erkenntnis der unorganischen Naturvorgänge anerkennen: dasjenige, was an diesen Vorgängen sinnlich wahrnehmbar ist, und die ideellen Zusammenhänge des Sinnlich-Wahrnehmbaren, die sich dem Denken offenbaren. … Die qualitativen Elemente des Gesichtssinnes: Licht, Finsternis, Farben müssen erst aus ihren eigenen Zusammenhängen begriffen werden, auf Urphänomene zurückgeführt werden; dann kann auf einer höheren Stufe des Denkens untersucht werden, welcher Bezug besteht zwischen diesen Zusammenhängen und dem Quantitativen, dem Mechanisch-Mathematischen in der Licht- und Farbenwelt“³.
Die Farbenlehre Goethes bleibt zwar bei der sinnlichen Wahrnehmung und deren Beschreibung, doch schließt sie die Möglichkeit nicht aus, dass spätere Generationen feinere Wahrnehmungsfähigkeiten entwickeln werden, durch welche die bewirkenden Kräfte hinter den Erscheinungen erkannt werden können.
¹ J.W. Goethe, Vorwort zur Farbenlehre
² J.W. Goethe – aus dem Gedicht „Zahme Xenien“
³ Rudolf Steiner, „Goethes Weltanschauung. Die Betrachtung der Farbenwelt“
⁴ J.W. Goethe, Sprüche in Prosa
⁵ Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe