Text: Ingrid Haselberger
Meine erste Erfahrung mit dem „inneren Weg“ machte ich in der Volksschulzeit. Als wir im Religionsunterricht das „Vaterunser“ gelernt hatten, wollte ich es am Abend vor dem Einschlafen still beten. Doch schon nach ein paar Sätzen verlor ich den Faden, dachte an ganz andere Dinge und vergaß, wo im Gebet ich stehengeblieben war…Ich schämte mich: ich erwarte, dass Gott mir zuhört, und kann mir nicht einmal selber ordentlich zuhören! Allabendlich übte ich nun, meine Gedanken zusammenzuhalten – bis es mir gelang und ich mich nicht mehr schämen musste.
Ich wurde älter, diese Erfahrung (wie das Beten überhaupt) geriet in Vergessenheit. Mit 19 Jahren entwickelte ich eine schwere Autoimmunerkrankung (Myasthenia gravis), die mich »zu 100% arbeitsunfähig wegen Körperbehinderung« machte, wie es in einem Bescheid des Landesinvalidenamts hieß. Es war schlimm, zu erleben, wie meine Gliedmaßen mir immer weniger gehorchten. Aber tiefinnerlich wusste ich, dass diese Krankheit zu mir gehörte; ich haderte nicht mit ihr, sondern nahm sie an und versuchte, so gut es ging, damit umzugehen. Und wieder empfand ich etwas wie Scham. Nicht Schuldbewusstsein – ich glaubte nicht, dass ich „schuld“ sei an meiner Krankheit. Ich suchte nicht nach Gründen in der Vergangenheit, fragte nie nach dem Warum. Aber mir wurde immer deutlicher, dass es ein Wozu geben musste, etwas, das ich daran zu lernen hatte!
Etwa zur selben Zeit begann ich, in einem Chor zu singen. Offenbar war ich musikalisch begabt: ich hatte ein absolutes Gehör, tat mir leicht mit dem Notenlesen und Blattsingen und führte bald die ganze Stimmgruppe an. Ich genoss die Fähigkeiten, die mir geschenkt waren, ohne dass ich sie mir erst erarbeiten musste, und ich genoss auch die Bewunderung, die ich dafür einheimste. Freilich: sobald die Euphorie des Chor-Erlebnisses verflogen war, machte sich die Scham wieder bemerkbar, ich hatte sie nur verdrängt…
Eine Freundin nahm mich mit in einen Volkshochschulkurs bei Kammersängerin Hilde Rössel-Majdan. Ich staunte: Das, wofür ich im Chor bewundert worden war, schien hier nicht viel zu gelten. Musik war offenbar sehr viel mehr als das, was in den Noten stand! Langsam begann ich, zu begreifen… Als Hilde Rössel-Majdan Jahre später als Hochschulprofessorin in Pension ging und ein Konservatorium gründete, schrieb ich mich ein. Hier begann mein eigentlicher Weg.
Und es ergab sich, dass die beiden Stränge meines Lebens – die Krankheit und das Singen – zusammenfanden und sich wechselseitig ergänzten.
Meine Krankheit brachte es mit sich, dass es mir sehr schwerfiel, in der Früh aufzustehen. Aber mein Traum war, einmal in einer Messe ein Solo zu singen (ich wusste: für eine Opern-Anfängerin war ich mit 32 Jahren schon jetzt zu alt). Gottesdienste sind normalerweise in der Früh – also zwang ich mich dazu, die frühestmöglichen Gesangstunden zu nehmen.
Der „Umbau“, der sich nun in mir vollzog, beinhaltete nicht nur Atemkontrolle, Stütze, Optimierung der Resonanzen und der Artikulation. Es ging auch um den bewussten Umgang mit Gefühlen. Meine Krankheit lehrte mich, dass Gefühle mich noch schwächer machen konnten, als ich ohnehin war: Wut oder Traurigkeit ließen meine Beine unter mir einknicken, und ich konnte kaum mehr gehen. Aber die Musik, an der ich arbeitete, drückte immer Gefühle aus, ich musste also lernen, in gesunder Weise damit umgehen. „Weinen müssen die Leut`!“, sagte HRM – es war nicht leicht, aber nach und nach lernte ich, Gefühle zu empfinden, ohne mich von ihnen überwältigen zu lassen, ja sogar, die für ein Lied oder eine Arie erforderlichen Gefühle im rechten Moment in mir hervorzurufen.
Es ging darum, mich selbst so zu verwandeln, dass ich dem Musikstück, das ich singen wollte, gerecht werden konnte. Interessante Erfahrungen machte ich dabei mit Passagen, die mir zunächst unangenehm oder auch ganz unverständlich waren. Zwar konnte ich über solche Stellen flüchtig „hinwegsingen“ – aber dann empfand ich wieder Scham. Also sah ich genauer hin und fragte mich: Wie kann ich mich so ändern, dass diese Stelle für mich zum Allernatürlichsten wird? Auf diese Weise wurden gerade solche Stellen zum „Schlüssel“ für die gesamte Arie: Ich hatte gelernt, nicht die Arie mir, sondern mich der Arie anzuverwandeln.
Ich lernte noch sehr viel mehr in dieser Zeit – vor allem, mich auf alles, was im Unterricht geschah, so „unmöglich“ es zunächst auch zu sein schien, zuerst einmal einzulassen. Aber der innere Weg war nicht alles – auch das Auftreten wollte gelernt sein: häufig hatten wir Klassenabende, öffentliche Konzerte mit Publikum. Da gab es einerseits die Versuchung, „auf Nummer sicher zu gehen“, ein Lied oder eine Arie in mir „stimmtechnisch zu verfestigen“, aus Angst, mir könnte ein Fehler passieren, statt meine Stimme freizulassen und mich jedes Mal ganz neu auf die Musik einzulassen. Und es gab die andere Versuchung, die eigene Eitelkeit voranzustellen, auf den Erfolg beim Publikum zu zielen, zu übertreiben, sobald ich merkte, dass ich gefiel…Doch wenn ich einer dieser Versuchungen nachgab, meldete sich wieder die Scham, oft nur leise, aber ich hatte inzwischen gelernt, auf sie zu achten. Und ich erkannte: es kam nicht darauf an, ob ich „gut“ war. Sondern es ging darum, dem Komponisten treu zu sein – genauer gesagt: der Inspiration des Komponisten.
Heute sehe ich in diesem Schamgefühl einen wertvollen Wegweiser: die Mahnung, aufmerksam zu sein für die Fragen, die das Leben mir stellt, und die rechte Antwort auf diese Fragen zu suchen – und die Warnung, wenn ich dabei bin, „falsch abzubiegen“. Auch in meiner Krankheit sehe ich heute einen solchen Wegweiser – nicht so subtil wie das Schamgefühl: wenn die Beine unter einem einknicken, lässt sich das nicht ignorieren. Aber ohne die gleichzeitig damit auftretende Scham hätte ich mir vielleicht gesagt, „Da kann man halt nix machen“, mich in einen Rollstuhl gesetzt und erwartet, dass andere Menschen für mich zuständig sind…
Stattdessen sagte ich in diesen Jahren manchmal im Scherz: »Ich glaube, ich habe begriffen, was meine Krankheit mir sagen wollte. Ihre Mission ist eigentlich erfüllt – jetzt könnte sie langsam wieder gehen!«
Schließlich geschahen zwei Wunder – und ich kann gar nicht sagen, welches das größere war: Ich wurde tatsächlich Sängerin. Und ich wurde gesund und konnte nach 19 Jahren Krankheit und Behinderung alle Medikamente absetzen. Sehr viel später las ich bei Rudolf Steiner von den sogenannten „Nebenübungen“ – und erkannte große Ähnlichkeit mit dem Weg, den ich gegangen war: Gedankenkontrolle (meine Auseinandersetzung mit dem „Vaterunser“) Initiative des Handelns (die freiwillig belegten frühen Gesangstunden) Erhabensein über Lust und Leid (der bewusste Umgang mit Gefühlen) Positivität (die zunächst ungeliebten „Schlüsselstellen“) Unbefangenheit (das Einlassen auch auf scheinbar „Unmögliches“) und schließlich alles miteinander, das „innere Gleichgewicht“ – übrigens das beste Mittel gegen Lampenfieber. Und ich las von Ahriman und Luzifer – und erkannte die beiden Versuchungen wieder, die ich oben beschrieben habe.
Wenn ich heute von meiner Geschichte erzähle, meint so mancher, das Singen hätte mich geheilt – und man hört ja auch viel davon, wie gesund Singen ist, für die Haltung, den Kreislauf, die Atmung, die Abwehrkräfte, zum Stress-Abbau, zum Lösen von Ängsten… Und zwar sogar auch dann, wenn man ganz falsch singt oder schreit.
Ich will das natürlich nicht bestreiten. Aber das ist nicht das, was ich erlebt habe. Ich glaube nicht, dass es funktioniert hätte, wenn ich gesungen hätte, um gesund zu werden. Sondern es war umgekehrt: Ich hatte im Singen die Aufgabe meines Lebens gefunden. Und um diese Aufgabe erfüllen zu können, musste ich gesund werden. Dazu war ein innerer Weg notwendig, der schließlich zu meiner Verwandlung führte.
Heute bin ich dankbar für meine Krankheit – sie hat mich zu einem anderen Menschen gemacht. Und ich danke auch meinem „Schamgefühl“, das mich auf meinen inneren Weg geführt hat (und mir bis heute treu geblieben ist).
Wie sollten wir jener alten Mythen vergessen können, die am Anfange aller Völker stehen, der Mythen von den Drachen, die sich im äußersten Augenblick in Prinzessinnen verwandeln; vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will.
(Rainer Maria Rilke an den jungen Dichter Franz Xaver Kappus, 12. August 1904)
