Text: Peter Raffalt, www.speakandact.com, Grafik: Margot Heinrici
„Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch
zur Form und zum Denken geleitet; durch die
Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie
zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben.“
(F. Schiller aus den „Ästhetischen Briefen“)
Sowohl in Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ als auch in Goethes „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“ finden sich Antworten auf die Französische Revolution. Beide sahen diese als gescheitert an. Sie ersetzte lediglich die Unterdrückung des Adels durch die Unterdrückung des Volkes. Diese Ereignisse rüttelten die Gemüter Europas auf und brachten viele dazu, über die Bestimmung des Menschen, seine Rolle in der Gesellschaft und den Stellenwert der Freiheit nachzudenken – ein Thema, das auch Schiller und Goethe beschäftigte. Beide waren sich darin einig, dass die Menschheit noch nicht reif war für die politische Freiheit, die die Revolution anstrebte. Vielmehr müsse sich der Mensch erst die innere, menschliche Freiheit erarbeiten.
Die 1794 beginnende Freundschaft zwischen Schiller und Goethe spornte beide zur intensiven Auseinandersetzung mit diesem universellen Thema der Menschheit an: der Frage nach der Freiheit.
Friedrich Schiller überarbeitete seine Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, um sie in seiner Literaturzeitschrift „Die Horen“ der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Darin beschäftigte er sich unter anderem mit der grundlegenden Frage nach dem Wesen eines menschenwürdigen Daseins und legte dar, welcher innere Zustand diesem Ideal entspräche. Diese Frage war für ihn unmittelbar gebunden an die Suche nach der inneren, seelischen Freiheit. „Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt der Anlage und Bestimmung nach einen reinen, Idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist“, schreibt er im vierten seiner 27 Briefe. Schiller will eine Brücke schlagen vom Menschen der alltäglichen Wirklichkeit zu dem idealen, reinen Menschen.
Zwei Triebe sind in der Menschennatur vorhanden, die ihn von dieser Vollkommenheit zurückhalten, wenn sie in einseitiger Weise zur Entwicklung kommen: der sinnliche und der vernünftige Trieb. Gewinnt der sinnliche Trieb die Oberhand, wird der Mensch von seinen Instinkten und Leidenschaften geleitet. Überwiegt der Vernunftrieb und der Mensch unterdrückt die Instinkte und Leidenschaften, unterwirft er sich einer abstrakten Notwendigkeit.
In beiden Fällen ist er einem Zwang unterlegen. Entweder dominiert seine sinnliche Natur die geistige oder umgekehrt. Beides hindert ihn daran, die volle Freiheit seines Wesens zu entwickeln, die nach Schiller im Gleichgewicht zwischen Sinnlichkeit und Geist liegt. Die Sinnlichkeit soll nicht unterdrückt werden, sondern sich am Geistigen orientieren. Und das geistige Streben sollte die Instinkte und Leidenschaften veredeln, ihnen ihre Macht nehmen, sodass sie das, was die Vernunft vorgibt, als selbstverständlich akzeptieren. Die wahre Freiheit kann nur durch Harmonie der beiden Triebe erreicht werden, denn beide benötigen einander und sind aufeinander bezogen. Erst eine Person, die sowohl im Sinnlichen die Geistigkeit der Vernunft als auch in der Vernunft die bestimmende Kraft der Leidenschaft harmonisch erlebt, ist eine freie Persönlichkeit. Und erst eine Gemeinschaft, in der sich der Mensch diese innere Freiheit erarbeitet hat, ermöglicht ein friedliches Miteinander. Dies sollte das Hauptziel eines Staates sein. Die äußere Freiheit setzt die innere Freiheit der Einzelpersonen voraus.
Das war Schillers Antwort auf die Fragen, die sich durch die Umwälzungen der Französischen Revolution an die Menschheit stellten.
Er gab seinem frisch gewonnen Freunde Goethe diese Briefe zur Ansicht, worauf selbiger enthusiastisch antwortete: „Das mir übersandte Manuskript habe ich sogleich mit großem Vergnügen gelesen; ich schlürfte es auf einen Zug hinunter. Wie uns ein köstlicher, unsrer Natur analoger Trunk willig hinunterschleicht und auf der Zunge schon durch gute Stimmung des Nervensystems seine heilsame Wirkung zeigt, so waren mir diese Briefe angenehm und wohltätig, und wie sollte es anders sein, da ich das, was ich für recht seit langer Zeit erkannte, was ich teils lebte, teils zu leben wünschte, auf eine so zusammenhängende und edle Weise vorgetragen fand.“
Goethe versprach, seinen Beitrag zu diesem Thema zu leisten und damit etwas zu den „Horen“ beizusteuern. Obwohl Schillers und Goethes Gedanken im Grunde übereinstimmten, hätte das Ergebnis ihrer Auseinandersetzungen nicht gegensätzlicher ausfallen können. Wie Schiller hatte auch Goethe einen „neuen, zukünftigen Menschen“ im Blick, den Menschen, der zu seiner wahren Bestimmung erwacht und ohne den eine bessere Gesellschaft nicht möglich wäre. Doch antwortete Goethe auf seine Weise. Er thematisierte nicht die Umgestaltung einer Gesellschaftsordnung. Seine Gedanken kreisten vorwiegend um zwei Fragen. Erstens, was prägt und beeinflusst unser moralisches Leben? Denn dieses entspringt nicht nur aus dem Sinnlichen, sondern auch aus Impulsen, die über das Erlebte hinausweisen. Folglich muss eine Welt jenseits der Sinne Einfluss auf unser Seelenleben ausüben. Zweitens, kann sich die menschliche Seele von rein sinnlichen Vorstellungen lösen und durch geistige Einsicht diese Welt jenseits der Sinne erkennen?
Beide Gedankenimpulse münden letztendlich im Übersinnlichen und behaupten, dass die Seele sowohl mit der sinnlichen als auch mit der übersinnlichen Welt verbunden ist. Goethe war überzeugt, dass jeder Mensch eine innere Sehnsucht nach Erkenntnis dieser Welt in sich trägt, dass diese Sehnsucht einer Verbindung zu jenem Reich jenseits der sinnlichen Wahrnehmung entspringt und zeichnete den Weg zur inneren Freiheit und das Streben nach dem Übersinnlichen mit reichem, poetischem Gehalt und großen, imaginativen Bildern in seinem „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“. Er drückte Menschen- und Weltgeheimnisse bildhaft aus. Schiller behandelte diese Fragestellung in seinen „Briefen“ in abstrakt-philosophischen Gedanken. Jedoch „Begriffe schienen Goethe viel zu arm, zu tot, um das Leben und Wirken der Seelenkräfte darstellen zu können“, schreibt Rudolf Steiner in „Mein Lebensgang“.
So bescheiden der Umfang dieses Werkes ist, so unermesslich reich ist sein Gehalt. Es veranschaulicht auf symbolische Weise, wie der Mensch im Bewusstseinsseelenzeitalter in eine selbst gewählte und freie Beziehung zur spirituellen Welt treten kann. Es beschreibt die Entwicklung vom niederen Ich zum höheren Ich und zeigt auf, welche inneren Wege der Mensch dazu beschreiten muss. Und es schildert die letztendliche Erlösung des einzelnen Menschen sowie der gesamten Menschheit und die damit verbundene Verschmelzung mit dem Göttlichen, der Lilie, das als höchstes Ziel angestrebt werden muss.
Dieses „Märchen” ist eines der tiefsinnigsten, aber auch rätselhaftesten Texte deutscher Literatur. Über dessen Inhalt betonte Goethe, dass es sich damit verhalte wie mit der Offenbarung des Johannes, dass wenige das Richtige darin finden werden. „Es wird zwar immer am Ende noch Rätsel genug bleiben,“ schreibt er und „Es fühlt ein jeder, dass noch etwas drin steckt, er weiß nur nicht was.“ Darüber hinaus blieb er sehr zurückhaltend und sagte, dass er eine Deutung erst abgeben werde, wenn sich 100 andere Erklärungsversuche gefunden haben. Dazu kam es zu seinen Lebzeiten nicht.
Am 13. Dezember 1792 schrieb Fürst August von Sachsen-Gotha an Goethe, ohne zu ahnen, dass dieser selbst der Verfasser des Märchens war, das gerade anonym in der Literaturzeitschrift „Die Horen“ veröffentlicht worden war: „Ich bin überzeugt, dass die Offenbarung des Johanni und dieses sogenannte Mährchen aus ein und derselben Feder geflossen sind… Johannes ist gefunden, er ist nicht gestorben, er lebt noch mitten unter uns. Aber unter welchem Namen? Wo ist jetzt sein Aufenthalt?“ Der Fürst empörte sich darüber, dass die Herausgeber das Wort „Mährchen“ statt „Offenbarung“ verwendet hatten und betonte die „prophetische Dunkelheit“ des Textes. Goethe antwortete überraschend positiv dieser „anfangs allzu verwegen scheinenden Hypothese“ des Fürsten, stimmte aber zu, dass das Märchen mit der Johannesoffenbarung verwandt sei. „Nur ein so frevelhaftes Zeitalter wie das unsere,“ bemerkte er, könne „die besagte Schrift für ein Mährchen halten“, weise sie doch „alle Kennzeichen einer Weissagung und das vorzüglichste Kennzeichen im höchsten Grad“ auf, indem „sie sich auf das Vergangene wie auf das Gegenwärtige und das Zukünftige bezieht.“
Tatsächlich liegt dieser Erzählung ein tiefer, verborgener Sinn zugrunde, der ebenso wie die Apokalypse des Johannes, mit dem bloßen Verstande nicht zu enträtseln ist. Auch Rudolf Steiner bezeichnete sie als Goethes „geheime Offenbarung“. Für ihn bewegt sich Goethe „mit seinen Personen im Märchen nicht im Reich abstrakter Ideen, sondern übersinnlicher Anschauungen“ und man „ist mit einem Erleben dieser Goethe’schen Schöpfung im Vorhof der Esoterik.“ Für Rudolf Steiner lag in diesen Imaginationen die Grundlage für die Entwicklung der Anthroposophie.
So offenbaren sich in Schillers Briefen gleichwie in Goethes Märchen tiefgreifende Einsichten über die Verbindung zwischen dem Leiblichen und dem Geistigen, dem Irdischen und dem Übersinnlichen. Schiller zeigt philosophisch den Weg auf, den der Mensch nehmen muss, um beides in Einklang zu bringen. Goethe beschreibt diese Entwicklung auf poetisch-imaginative Weise und verdeutlicht, wie die menschliche Seele nicht allein durch das Denkvermögen, sondern durch alle menschlichen Seelenkräfte in die objektiven Weltgeheimnisse eindringen kann.
Dieses „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“ ist ein wunderbares Beispiel dichterischer Kunst, das zweifellos zu den Besonderheiten der gesamten Weltliteratur zählt und es drängt durch die Rätselhaftigkeit förmlich dazu, seinen tieferen Sinn zu ergründen.