Weg und Ziel zugleich

Text: Wolfgang Schaffer

Anthroposophie wird als ein Weg der Erkenntnis beschrieben. Es geht dabei um die Verstärkung des ganz gewöhnlichen, tagwachen Bewusstseins durch eine Vertiefung der Kräfte, die diesem Bewusstsein zugrunde liegen. Eine solche Entwicklung der Denkkraft hat nicht direkt etwas mit gesteigerter Intellektualität zu tun. Es wird, um ein Bild aus der «Philosophie der Freiheit» Rudolf Steiners zu verwenden, die Glut des Denkens unter der Asche des rein abstrakten Begriffsvermögens entfacht. Dabei werden Gefühlserfahrungen gemacht, die so intensiv in der Seele wirken können, dass sie schließlich auch den Willen ergreifen. Anstatt des dürren, kalten, rein formalistischen Denkens, das sich nur flüchtig an einer jeweiligen Begriffsoberfläche spiegelt, werden Ideen und Ideale erlebt, die von Seelenwärme und  Begeisterung durchdrungen sind! Ein Mensch, der sich mit den Inhalten der Anthroposophie ernsthaft verbindet, erfährt dadurch die Verwandlung seines ganzen bisherigen Wesens. Sein Denken, Fühlen und Wollen kommen in einer ganz neuen Art und Weise in Bewegung und bahnen sich gestützt ineinander einen Weg zur Erweiterung der Selbsterkenntnis. Das bisherige Verhältnis zur äußeren und inneren Welt wird neu gestaltet. Dieser Weg ist durch das Lebenswerk Rudolf Steiners exemplarisch vorgegeben. Wer ihn wie Rudolf Steiner geht, möchte das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen. Es ergibt sich dadurch eine neu geschaffene Verbindung vom Ich im Menschen zum Ich im Weltall.

Ich und Welten – Ich?

Das «Ich» als das Geistige im Menschenwesen zu betrachten lässt sich durch die Tatsache begründen, dass es sich bei dem Bewusstwerden einer Ichhaftigkeit um ein rein übersinnliches Erleben eines rein übersinnlichen Inhaltes handelt. Haben Sie schon einmal ihr Ich gesehen, gehört oder auf eine andere Weise mit ihren Sinnesorganen wahrgenommen? Gibt es andererseits gefragt, irgendetwas in der Welt, von dessen Existenz sie so sicher sind wie von dem Vorhandensein ihres eigenen Ich? Sinnlich unsichtbar und doch mit Sicherheit präsent – das ist das Geistige im Menschenwesen. Der Ausgangspunkt vom Ich in sich ist somit jedem Menschen ganz unmittelbar gegeben. Das Ich im Weltall erscheint jedoch als großes Fragezeichen. Was hat die Welt um mich herum mit einem – genauer noch – mit meinem Ich zu tun? Wie soll dieses vermeintliche Welten – Ich mit meinem eigenen Ich durch einen Erkenntnisweg in Verbindung gebracht werden?

Vom Ziel zum Weg ?

Gibt es überhaupt einen Weg auf ein Ziel hin, solange man mit seinem Ausgangspunkt so unlösbar verbunden ist, wie mit seinem eigenen Ich? Wege setzen im alltäglichen Verständnis eine gewisse  Entfernung und einen Abstand voraus, der zur Erreichung eines Zieles überwunden werden muss. Wie ist es nun mit einem Ausgangspunkt, zu dem man keinen Abstand findet? Wenn ich auf der physischen Erde den Ort an dem ich mich gerade befinde verlassen will, beginnt der Weg mit dem ersten Schritt, durch den ich meinen Körper in Bewegung versetze. Auf der Erde gibt es durch die im Verhältnis zu unserem menschlichen Körper gewaltig große planetarische Ausdehnung unter unseren Füßen praktisch unendlich viele Ziele, die ich mir zur Erreichung vornehmen kann. Ganz anders ist es mit dem Ich des Menschen. Es ist immer schon beim Ziel angekommen, sobald es sich entschließt, ein solches scheinbar außer ihm befindliches Ziel zu erreichen. Das Ich hat keinen vorbestimmten Inhalt außer denjenigen, mit dem es sich jeweils verbindet. Jeden Morgen erleben wir diese Zielbestimmung als Zielfindung in dem Augenblick, in dem wir aus der tiefen Bewusstlosigkeit des Schlafzustandes oder aus den Verhältnissen eines Traumes in den physischen Körper beim Aufwachen untertauchen. Wir sind damit in der Erinnerung an unser ganzes bisheriges Leben wieder bei uns selber angekommen! Dabei bleiben wir jedoch nicht stehen. Wir verbinden uns mit unserer Leiblichkeit beim Erwachen und treten augenblicklich durch die Sinnesorgane unseres physischen Leibes hindurch mit der uns umgebende Welt in einen Austausch. Das Licht des Tages, die Geräusche, Gerüche und die Temperatur der Umgebung werden uns in Verbindung mit unserem Selbst als Ich bewusst. Da ist sie nun, die ganze Welt außerhalb unseres Selbst! Das alltägliche Leben besteht darin, das richtige Verhältnis zu der Welt zu finden, die uns von außen umgibt. Wir brauchen einerseits gewisse Stoffe aus der Welt zur Erhaltung unseres Lebens. Atemluft, Wasser und Nahrungsmittel zählen dazu, wie auch der Austausch und die Begegnung mit anderen Menschen und Lebewesen. Vor anderen für uns gefährlichen Weltinhalten müssen wir uns hingegen schützen, um nicht einen Schaden zu erleiden. In dieser Außenwelt finden wir zunächst keine Spur von unserem Ich. Mit dem «normalen» Ich sind wir im Regelfall unzertrennlich und abstandslos verbunden. Wo sollte sich nun ein Erkenntnisweg ergeben, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen kann, wenn wir uns der fortwährenden Präsenz unseres Ich nicht entziehen können?

Im Strom des Weltgeschehens

Einen bereits irgendwo vorgegeben Weg zur Selbsterkenntnis gibt es im Sinne der Anthroposophie nicht außerhalb unseres eigenen Selbst. Diesen Weg findet man nur, indem man ihn in sich erschafft! Da wir die äußere Welt bereits ohne unser Zutun vorgegeben finden, kann der neue Erkenntnisweg nur dort entstehen, wo man einen Abstand schafft zu seinem gewohnten, ganz normalen Ich. Wenn das Ich im Weltall nirgendwo zu finden ist, so findet sich vielleicht die Welt im Ich? Es gibt tatsächlich eine Möglichkeit, im Erleben des eigenen Ich das Weltgeschehen zu entdecken. Wodurch sind wir im Normalzustand mit der ganzen äußeren Welt verbunden? Durch die Erkenntnisse, die wir mit Hilfe des Denkens aus den Wahrnehmungen der Umgebung gewinnen. Wahrnehmungen und Begriffe werden zu Erkenntnissen vereint. Dazu dient uns das Denken als Tätigkeit des Ich. Zu dieser denkenden Betätigung des Ich gilt es nun einen gewissen Abstand zu finden, indem wir darin auch noch einen elementaren Weltbezug entdecken. Dazu führt das beschauliche Nachdenken über den Sinnspruch:

«Ich empfinde mich denkend eins mit dem Strom des Weltgeschehens.» 1

Als denkender Mensch bin ich zugleich mit meiner Tätigkeit auch der Schauplatz, auf dem die Welt – das Welten Ich – sich selbst in Tätigkeit versetzt. Meine Gedanken sind zugleich auch Weltgedanken, die sich in meinem denkenden Bewusstsein als Strom des Weltgeschehens offenbaren. Da finde ich die Welt in mir, wo ich die den Wahrnehmungen der Dinge entsprechenden Gedanken so miteinander verbinde, wie es die ihnen innewohnende Gesetzmäßigkeit verlangt. Diese Gesetzmäßigkeit hat von ihrer Beschaffenheit her gar nichts mit mir zu tun, obwohl ich es bin, der sie in sich entdeckt!  Den Einsichten der Anthroposophie entsprechend ist die Verfügbarkeit der kosmisch gegründeten Weltgedanken in unserer Zeit von den Geistern der Form an die sogenannten Geister der Persönlichkeit übergegangen. Eine eingehende Beschreibung dieser speziellen Zusammenhänge kann hier nicht gegeben werden. Für die alltägliche Lebenspraxis unserer Zeit bedeutet dieser Übergabe vor allem das Erlebnis der einzelnen denkenden Persönlichkeit, dass sie selbst die Erzeugung der Gedanken bewirken kann. In früheren Zeiten war es den Angaben Rudolf Steiners nach so, dass die Menschen die Gedanken als etwas zur Welt Gehöriges wahrnehmen konnten. Gedanken waren damals etwas, das wie eine Gabe aus der geistigen Welt angenommen werden konnte. Heutzutage gelten Gedanken materialistisch gesehen als Erzeugnisse des Gehirnes, die indirekt sogar mit Hilfe technisch gestützter, bildgebender Verfahren sichtbar gemacht werden können. Das Denken selbst bleibt dabei seinem inneren Gehalt nach freilich weiter unsichtbar. Es ist ein rein übersinnliches Ereignis. Mit aller Deutlichkeit zeigt sich durch das Heraufkommen der virtuellen Realität, dass die Verantwortung für die Aufnahme und Weitergabe von Gedanken vollends bei der einzelnen Persönlichkeit im Gewissen des Menschen angekommen ist. Die Datenspuren, die ein Mensch in der virtuellen Welt hinterlässt, geben Aufschluss über alle Wahrnehmungsinhalte mit denen er in Berührung gekommen ist. Dadurch ist von nun Jeder in der Lage und auch in der Pflicht, über den Inhalt seines Bewusstseins selber zu verfügen. Es gibt dazu auf dem Schulungsweg der Anthroposophie einen weiteren Merksatz, der auf dem Weg zur Selbsterkenntnis sich als sehr hilfreich erweisen kann. Dieser Grundsatz lautet:

«Schaffe dir Augenblicke innerer Ruhe und lerne in diesen Augenblicken, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu unterscheiden!» 2

Um dieses Unterscheidungsvermögen zu entwickeln braucht es die Kraft, sich selbst und seine Erlebnisse mit einem gewissen Abstand zu betrachten. Wie anders erlebt man doch einen Schicksalsschlag, wenn er nicht das eigene Leben betrifft, sondern einem anderen Menschen widerfährt? Ein solcher Abstand zum eigenen Erleben ergibt sich im Normalfall oft erst im Laufe von Jahrzehnten wie von selbst. Als Motiv des Schulungsweges fordert man sich selber auf, von Zeit zu Zeit wie ein völlig fremder Mensch auf das eigene Leben zu blicken. Man schaut auf seinen Lebenslauf dann von einer gewissen Entfernung, wie man zum Beispiel am Abend eines arbeitsreichen Tages auf eine Anhöhe außerhalb der Stadt oder des Dorfes spaziert um dann von der Ferne auf den Heimatort zu blicken. Plötzlich erkennt man die Größenverhältnisse seiner gewohnten Umgebung aus einer ganz anderen Perspektive. Ein Schicksalsschlag, den man kaum zu bewältigen glaubte, erweist sich dann möglicherweise als ein ganz wesentlicher und hilfreicher Entwicklungsimpuls, ohne den man gewisse positive Erfahrungen und Begegnungen im weiteren Verlauf seiner Biografie gar nicht hätte machen können. Die Welt zeigt sich in dieser Betrachtung dann durch alles, was durch sie in unser Leben scheinbar zufällig an Hindernissen oder Glücksmomenten hereingetragen wird, mit uns durchaus in einer sinnvollen Art und Weise verbunden. Wir können im Bezug auf unser Schicksal so die Welt wie ein Ich – begabtes Wesen annehmen lernen. Das Geistige in der Welt kommt uns in dieser Perspektive durch die Begegnungen, die unsere tiefsten Lebensimpulse betreffen wie ein Höheres Selbst entgegen. Wir begegnen unserem Schicksal auf diese Weise wie einem noch unbekannten und dennoch urvertrauten Ich – Wesen. Diese Begegnung mit dem Höheren Ich in mir führt aber auch gleichzeitig über die eigene Persönlichkeit hinaus zu einer Begegnung mit dem Schicksal der ganzen Welt. Das «Ich Bin» Wesen der Welt hat sich selbst am Beginn unserer christlichen Zeitrechnung als der «Weg, die Wahrheit und das Leben» erkennbar gemacht. Mit ihm sind wir auf jedem weiteren Schritt zu uns selbst zutiefst vereint.

«Es lernet im Leben

Die Seele zu denken,

Sie denkt dann die Wesen

Die bilden das Sinnessein,

Doch fühlet sie ruhig

Sich selber erkraftet,

So lernt sie sich sicher

Nicht denkend nur kennen,

Gedacht auch weiß sie

Im Weltall sich dann –

Von Göttern gedacht.»

Rudolf Steiner

 

1.) R. Steiner GA 17: Die Schwelle der geistigen Welt

2.)  R. Steiner GA 10: Wie erlangt man Erkenntnisse der Geistigen Welt

 

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