Über das Wahrnehmen in der Kinderheilkunde

Dr. Martin David ist Kinderarzt im Therapeutikum im 4. Bezirk in Wien, Tilgnerstraße 3.

Das Interview mit ihm führte Reinhard Apel

Ein anthroposophischer Arzt nimmt sich meist mehr Zeit für die Patienten, als das normalerweise üblich ist. Was bedeutet dabei das Wahrnehmen für Sie?

Ich begegne ja den Eltern und den Kindern, die ich behandle. Da hat man Wahrnehmungen. Einmal die Konstitution, das Erscheinungsbild eines Menschen. Ist die Person sehr dünn, sehr hager. empfindlich und zart gebaut, ist da eine sehr dünne, filigrane Hand? Oder ist da ein kräftiger Händedruck beim Hände geben? ist die Hand vielleicht feucht oder warm? Da nimmt man sogleich etwas wahr. Natürlich ist das mit Bedacht zu handhaben, um nicht unversehens jemanden in eine Schiene zu pressen. Es sind nur erste Eindrücke, man soll offenbleiben. Doch gewinnt man so Hinweise darauf, wie ein Mensch quasi in sich drinnen steht und mit seinem Körper klarkommt.

Das muss man aber mit der gebotenen Vorsicht tun, um keine Vorurteile aufzubauen.

Natürlich, das ist ganz wichtig. Generell stimmt es schon, dass der fein und sensibel konstituierte

Mensch viel mehr wahrnimmt und vielleicht auch unter Dingen leidet, die ein anderer gar nicht so stark aufnimmt, weil er in sich zufrieden ist und gut abgepolstert in sich ruht. So ein Mensch ist vielleicht kräftiger gebaut und hat mehr Widerstand gegenüber dem, was so alles von überall her auf einen einwirkt. Geniale Künstler mussten ja andererseits oft sehr empfängliche und sensible Menschen sein, sonst hätten sie ihr Werk nicht schaffen können. Es hat eben alles zwei Seiten.

Man sieht die Eltern, man sieht und erlebt die Kinder. Die Kinderheilkunde ist quasi eine Wahrnehmungsheilkunde. Der Erwachsene kann einem sagen, was ihn stört, Die Kinder, wenn sie

ganz klein sind, können ja noch gar nicht sprechen. Die Kinder erscheinen einfach vor mir. Das geht mit der Geburt los. Wenn die Neugeborenen sich an die neue Umgebung anpassen, da kann man sehr, sehr viel dabei beobachten. Wie schnell atmen sie, wie gut bekommen sie Luft, plagen sie sich sehr dabei, das alles kommt in Betracht. An der Hautfarbe erkennt man deutlich ob die Kinder rosig sind, sich also gut in sich selber zurechtfinden, weil vielleicht auch die Bedingungen gut passen oder ob sie dafür Hilfe und Unterstützung brauchen, die man als Arzt dann mit den Eltern besprechen wird. Der Herzschlag, die Wärme der Mutter, ihr Atmen, das Streicheln, das Zureden ist alles sehr wichtig direkt nach der Geburt. Das als Beispiel gemeint.

Alles lebt davon, wie die Kinder vor mir erscheinen. Man sieht dem Kind an, wenn es fiebert. Die Kinder sind dann oft viel ruhiger, sie haben glänzende Augen, beim Berühren fühlt man die erhöhte Temperatur. Um das zu bemerken, braucht man noch kein Thermometer, wiewohl die Höhe des

Fiebers natürlich interessant ist. Es hat eine Bedeutung, wie gut sie fiebern können, wie kräftig die Fieberreaktion ist.

Fieber hier als wichtige und positive Reaktion des Immunsystems gemeint und nicht gleich als Feind des gesunden Zustands?

Der Organismus reagiert durch das Immunsystem ganz natürlich und richtig auf eine Erkrankung.

Zur Lebensgefahr darf sich das Fieber natürlich nicht steigern, da greift man ein, aber das automatische Fiebersenken wäre eigentlich kontraproduktiv. Gehen die Kinder Richtung Scharlach – das ist eine Infektion durch Streptokokken, bei der die Halsorgane betroffen sein können – haben sie oft einen sehr blassen Mund und überspitzte Züge. Die Nase kommt spitzer raus, das Kinn, die Backenknochen, also eigentlich so, wie die Formentwicklung später im Leben wird. Man kommt ja

als vergleichsweise unförmiger Tonklumpen (übertrieben gesagt) und mit runden Formen auf die Welt, im Laufe des Lebens sieht man immer fein ziselierter und geformter aus, bis im hohen Alter alles normalerweise wirklich spitzig, kantig zu Tage tritt. Das haben Maler oft und oft schön dargestellt, wenn sie das Lebensalter herausarbeiten wollten. Da greifen – anthroposophisch gesprochen – die astralischen Kräfte sehr stark ein und das sind ja Formkräfte. Sie können im Übermaß eben auch auszehren, sind sonst aber für die Formgebung wichtig.

Andererseits bei Masern, und ich habe hier in der Praxis in der letzten Zeit nur ein Kind gehabt, weil Masern heute selten vorkommen, sind die ätherischen Kräfte überschießend, die das Wachsende, Sprießende und gegebenenfalls auch das Wuchernde bedeuten. Sie bringen die rundlichen quasi Lebensbildeerscheinungen hervor, das Konvexe. Diese Kräfte sind bei den Masern übertrieben stark angesprochen, und am Werk. Es gibt interessanterweise auch andere virale Erkrankungen, wo es auch so sein kann, dass die Gesichtszüge verwaschen sind, weil das Gesicht immer leicht geschwollen ist. In allen diesen Fällen tut der Arzt natürlich auch etwas, schaut nicht nur verzückt zu. Aber wir sind ja beim Wahrnehmen. Bei dieser letzten Erscheinung des Verschwimmens der Züge, kann man sich schon vorstellen, dass da einer noch einmal neu plastiziert an seinem Körper und die bisherige Form ein Stück weit auflöst, um sie zu überwinden oder besser, um sie umzuarbeiten. Der höhere Mensch im erscheinenden Menschen arbeitet da an dem für ihn passenden Körper, will ihn sich besser zubereiten. Da müssen die bisherigen Formen ein wenig aufgelöst werden. Und nach dem Kranksein zeigt sich oft: Es wurde ein Schritt gemacht. Das kann man zuweilen sehr deutlich beobachten.

Ich hatte so eine Situation bei meiner jetzt großen Tochter, die mit eineinhalb Jahren hohes Fieber hatte für ein paar Tage, aber sonst nichts Besonderes. Bis dahin war der Hund der „Wauwau“, „Miau“ war die Katze und „Tatütata“ war die Rettung. Also sie äußerte zweisilbige Worte. Nach dem Fieber waren das alles wirkliche Begriffe und Worte. Sie konnte dann also „Hund“ und „Katze“ und alle möglichen Dinge von sich aus ausdrücken und mit Namen benennen. Wir haben da als Eltern nicht nachgeholfen. Sie hätte das natürlich irgendwann auch so gelernt. Aber es war wirklich sehr auffallend, dass nach diesen fünf Tagen Kranksein so einen Sprung gemacht worden ist.

Das ist ihr Hinweis, dass Krankheiten überhaupt und besonders die Kinderkrankheiten eine Hilfe in der persönlichen Entwicklung sein können?

Genau. Ich würde es noch weiter fassen. Immer wenn man Fieber hat, stellt das eine erhöhte Anstrengung der Ich-Organisation in uns dar, und da wird vom höheren Ich aus an uns positiv gearbeitet. Die Eltern sollten sich im Idealfall nicht sagen: „Oh Gott, warum fiebert mein Kind schon wieder“, sondern sich sagen: „Mein Kind hat etwas vor“.

Man könnte also den zunächst paradoxen Satz prägen: Gut fiebern Können hält gesund.

Natürlich kann Fiebern bei Kindern auch eine Reaktion auf zu viel Unbill, sagen wir zu viele Sinneseindrücke sein. Vor allem wenn sie für große Aktionen noch zu klein sind. So hat in meinem Umfeld ein kleines Kind auf den ersten Supermarktbesuch mit starkem Fieber reagiert. Auch Ferienreisen mit kleinen Kindern müssen ja nicht gleich weißgottwohin sein. Denn da ist für kleine Kinder dann viel Veränderung zu verdauen. Den Eltern wäre da oft mehr Augenmaß anzuraten.

Als Arzt wird man sich natürlich allem zuwenden, was in die Praxis an Problemen gebracht wird. Wenn es möglich ist, kann es helfen, wenn man die Eltern dazu anregen darf, die Lebensumstände

des Kindes möglichst kindgemäß zu gestalten. Soweit das in unseren heutigen Lebensumständen eben machbar ist.

Herr Dr. David, wir danken für das Gespräch

Permalink