Abenteuer kindliche Entwicklung – Wie werde ich, was ich bin?

Text: Norbert Liszt, Foto: Ilse Liszt.

Wüchsen die Kinder in der Art fort, wie sie sich andeuten, so hätten wir lauter Genies.

Johann Wolfgang von Goethe

Wenn ein Kind das Licht der Welt erblickt, ist es kein unbeschriebenes Blatt. Es trägt etwas in sich, das man als Lebensplan bezeichnen kann. Diesen Plan will es im Verlauf seines Lebens verwirklichen und hofft auf Bedingungen, die ihm die Verwirklichung ermöglichen. Die Erziehung, die ihm durch Eltern, Lehrer, Verwandte etc. zuteilwird, kann dafür gute oder weniger gute Verhältnisse schaffen.

Jede Lebensepoche trägt adäquate Entwicklungspotenziale in sich. Wenn die Erziehenden das berücksichtigen und erspüren welches Potenzial das Kind mitgebracht hat, dann können sie diesem Potenzial wie Hebammen zur Geburt verhelfen. Diese weiteren – seelisch-geistigen – Geburten durchlaufen in kleinen Schritten Zeitspannen, in denen aufbauend Grundlagen für die Persönlichkeitsbildung geschaffen werden.

Ausformung des physischen Leibes

Jeder Plan, wie zum Beispiel der Bauplan eines Architekten, braucht bestimmte Bedingungen, die seine Verwirklichung ermöglichen. Es müssen physische Strukturen bereitgestellt werden – ein Architekturbüro, Geräte und Maschinen, Transporteinrichtungen, Baumaterialien etc. Es müssen Mitarbeiter gefunden werden, die die fachliche Eignung mitbringen. Auch das Kind braucht physische Anlagen, die es ihm ermöglichen, seinen Lebensplan zu verwirklichen. Diese Anlagen sind sein physischer Leib.

Das Kind wird also zunächst seinen physischen Leib ausformen. Er bildet die Basis für seine Entwicklungsmöglichkeiten. Seinen Leib vererben ihm die Eltern. Doch das Kind will einen Leib haben, der seinem Geistig-Seelischen und den Umständen seiner Umwelt und ihren Einwirkungen entspricht. Es soll empfindsam werden für die Vorgänge der Welt. Also wird das Kind seinen Vererbungsleib so umgestalten, dass er den Erfordernissen der Welt und seinen inneren Antrieben gerecht wird. Dabei ist es auf die verständnisvolle Hilfe der Erwachsenen angewiesen.

Jedes Kind hat das Potenzial, sich selbst zu dem zu erziehen, wozu es veranlagt ist. Das kann gelingen, wenn ihm die Erwachsenen den Boden dafür bereiten. Die Welt bietet Verhältnisse, die ihm das ermöglichen, aber auch erschweren. Das Kind möchte sensibel werden für die Weltgeschehnisse, aber so, dass sie „verdaubar“ sind und es nicht überwältigen. Dafür soll die Leiblichkeit adäquat gestaltet sein.

In den ersten sieben Jahren liegt der Schwerpunkt bei der Sinnestätigkeit. Was das Kind über die Sinne aufnimmt, wirkt auf seinen Körper und formt seine Strukturen aus. Es ist deshalb von besonderer Bedeutung, mit welcher Haltung die Erwachsenen dem Kind begegnen und welche Umgebung sie ihm bieten. Seine körperliche Konstitution wird sich dem entsprechend ausbilden. Es ist in den ersten sieben Jahren hauptsächlich Sinneswesen und offen für alles, was auf es einwirkt. Das kann Förderliches und Hinderliches sein.

Nachfolge und Seelenbildung

Das Kind lebt noch in Einheit mit den Einwirkungen, die von außen auf es zukommen. Doch nach und nach löst es sich heraus aus dieser Einheit und tritt betrachtend der Welt gegenüber. Eine Innenwelt entsteht. Die Seelenbildung wird vorrangig und das erfordert, dass die Außenwirkungen aufgehalten und im Seelenraum bewegt werden.

Die Seele will sich nicht nur empfangend hingeben, sie will auch Reflexionsfähigkeit entwickeln. Sie wird damit dialogfähig und lernt, auf Reize von außen adäquat zu antworten. Dafür muss der Geist in ihr seine Tätigkeit entfalten können. Die seelischen Anlagen Denken, Fühlen und Wollen darf dann die eigene Geistigkeit, das Ich, für seine Zwecke nutzen und mit ihnen die Persönlichkeitsentwicklung fördern. Doch diese Persönlichkeitsentwicklung bedarf einer behutsamen Begleitung. In kleinen Schritten soll die kindliche Seele ausgestaltet werden, denn sie ist der Brückenschlag von der Innen- zur Außenwelt, von der sinnlichen Welt zur geistigen. Wenn diese Brücke elastische Tragkraft hat, ermöglicht sie dem Kind, den Weg aus der Einheit mit seiner Umwelt zu deren Beobachtung und Beurteilung zu gehen. Urteilsfähigkeit erlangen bedeutet, in Gedankenklarheit Entscheidungen treffen zu können und danach zu handeln. Das heißt erwachsen werden. Dorthin ist es allerdings ein langer Weg. Dafür muss erst der Boden bereitet werden, aus dem diese Fähigkeiten erwachsen können.

Dieser Boden ist das ästhetische Empfindungsvermögen. Man darf den Intellekt der Kinder nicht zu früh aufwecken und sie zum moralischen Urteilen veranlassen. Erst die Ausbildung eines feinsinnigen Empfindungsvermögens und Gefühlslebens bereitet vor auf die menschlichste Geistesgabe, die Erkenntnis. Die Begegnungen mit Autoritäten, vor denen sie Ehrfurcht empfinden, sind in dieser Entwicklungsphase besonders wichtig. Ihren Lebenswegen nachzuspüren, wird die kindliche Seele selbst auf den Weg zu einer gefestigten Autorität bringen. Das Aufkeimen der Liebe zu den Dingen, das Interesse, das Aufblicken zum Verehrungswürdigen führt zur Auseinandersetzung mit der Wahrheit und zur Entscheidungsfähigkeit. Es ist ungefähr die Zeit vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, also die erste Schulzeit bis zur Pubertät.

Man darf den Kindern seine Meinung und moralischen Urteile nicht aufdrängen. Aber, wenn man ihnen Vieles anbietet, können sie aus den eigenen Erfahrungen lernen. Auch mit Irrtum, Fehlern und Grenzen sollen sie umgehen lernen. „Es soll an der Beobachtung des Lebens für sich selber das moralische Urteil bilden lernen und Gefallen am Guten finden. Die eigenen Moralkräfte sollen gepflegt werden.“¹ In seinen Gefühlsregungen entwickelt sich der „Geschmack“ für Gut und Böse. Eine fertige, sterile Umgebung, wie die Kinder sie heute häufig vorfinden und starre Gebote, sind der Feind des beschriebenen Entwicklungsweges. Anders ist es, wenn die Kinder die Möglichkeit haben, sich genügend und abwechslungsreich zu bewegen, sowohl körperlich, als auch seelisch, und wenn sie Gestaltungsperspektiven vorfinden. Das spielende Eintauchen ins Weltgeschehen, das Genießen und Gernhaben dessen, womit sie sich beschäftigen, ist dafür eine gute Basis. Das Spiel, in Form von künstlerischer und rhythmischer Betätigung, Musik, freiem Spiel …, fördert den Zusammenschluss von Empfindung und Verstand. Es ist das Zusammenstimmen von Lebendigkeit, Liebe und Erkenntnis, die uns Menschen mit Vernunft begabt.

Jugend – Erwachen zum Urteil

Von den Erziehern und Lehrern darf man erwarten, dass sie die Kinder auf die Stufe bringen, auf der sie sich selbst ergreifen und weiterbilden können, sodass sie ein selbstbestimmtes Leben führen können und befähigt sind, danach zu streben, ein liebevolles Verhältnis zur Welt und ihren Mitmenschen zu finden. Der Weg dorthin verlangt, dass das Interesse an der Welt und die moralische Urteilskraft erwachen. Neue Seelenfähigkeiten wachsen aus dem Keim, der in den Boden der Empfindungskräfte gelegt wurde. Mit der Geschlechtsreife wird die Seele bereit für die Intellektualität und das moralische Urteilsvermögen.

Urteilen kann man nur über Dinge, von denen man etwas versteht. Es setzt einen Denkakt voraus. Aus Kindern werden Jugendliche. Sie wollen ein selbständiges Verhältnis zu den Welterscheinungen gewinnen und stellen sich die Aufgabe, auf eigenen Wegen die Wahrheit zu ergründen. Sie entdecken an sich das Aufkeimen des Besonderen, das sie von allen anderen unterscheidet. Die Morgendämmerung der Individualität wird spürbar. Wer bin ich und wohin gehöre ich? Diese Fragen dringen aus dem Unterbewussten an die Oberfläche des Gefühlserlebens. Das führt häufig zu Konfrontationen, vor allem mit Erwachsenen, aber auch mit Gleichaltrigen. Sie wollen sich abgrenzen und fühlen sich mehr und mehr der Welt und ihren Mitmenschen gegenüberstehend. Auf der Suche nach Gleichgesinnten erproben sie ihr Eigensein im sozialen Miteinander. In Cliquen loten sie aus, wie sie sich als Einzelne in der Gruppe bewähren können.

Lehrer sollten ihnen die Möglichkeit bieten, verschiedene Arbeitsfelder kennenzulernen. In der praktischen Betätigung wird ihr Urteil von der Wirklichkeit bestätigt oder korrigiert. Urteilen bedeutet: Ich stelle mich als Subjekt der objektiven Welt gegenüber und entscheide als solches, wie sich einzelne Dinge und Ereignisse von anderen unterscheiden und welche Bedeutung sie im Zusammenhang mit diesen anderen haben. Aber Urteilen bedeutet auch, dass sich diese einzelnen Dinge mit mir verbinden und in mir erst Wert und Bedeutung erhalten. Das Interesse an den Weltprozessen, seien es soziale, wirtschaftliche, rechtliche oder Naturprozesse, führt zur Wahrheitsliebe und einem brüderlichen Verhältnis, das man diesen Prozessen gegenüber empfindet. Das Urteil eines gereiften, autonomen Menschen könnte lauten: „Die Welt gehört zu mir und ich bin mitverantwortlich dafür, was aus ihr wird.“

¹ Rudolf Steiner, Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst, Vortrag, Oxford, 19. August 1922, GA 305, Tb 604.

Literatur: 1) Zum Unterricht des Klassenlehrers an der Waldorfschule. Ein Kompendium. Verlag freies Geistesleben

2) GA 305, Rudolf Steiner, siehe oben

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