Ärztliches Handeln zwischen Pflicht und Pflegen in der Medizin zu Beginn des 3. Jahrtausends

Text: Dr. Gerhard Denk, Wien

Pflicht wird erfüllt

Pflicht wird erfüllt, die Intention dazu wird als von außen kommend erlebt. Wenn ich etwas pflege, dann verwirkliche ich etwas, das meinem innersten Anliegen entspricht. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch das ärztliche Handeln, eingebettet im kulturellen Zusammenhang. Dieser soziale Kontext hat sich in den vergangenen Jahrzehnten tiefgreifend verändert. Einst konnte der Praktische Arzt, der seine Patienten bzw. deren Familien viele Jahre begleitete und der seine Medikamente viele Jahre kannte, seine Therapien aufgrund eigener Erfahrungen individualisieren. Zunehmend rascher wechselnde Arzneimittel, eine Unzahl von entsprechenden Studien und Metastudien zu Wirksamkeit bzw. Nebenwirkungen, sowie neue Untersuchungsmethoden brachten eine endlose Flut von Informationen. Um diese zu bewältigen, schufen ärztliche Fachgesellschaften für jede einzelne Erkrankung sogenannte Richtlinien zur Diagnose und Therapie. Zunächst als Hilfe für den behandelnden Arzt und als Empfehlung gedacht, wurden aus diesen Richtlinien rasch ungeschriebene Gesetze und ein Arzt, welcher alternative Diagnose- oder Therapiewege beschreitet muss mit Konsequenzen bis zur strafrechtlichen Verurteilung rechnen. Richtlinien als Empfehlungen sind sicherlich sehr sinnvoll. Zu beachten ist, dass sich in denselben sowohl einseitige Weltanschauungen (Materialismus), persönliche Eitelkeiten (Professorenstreit) als auch Geschäftsinteressen (Pharmaindustrie) festschreiben können.

Nicht nur der Arzt wird zunehmend „in die Pflicht“ genommen. Die WHO möchte im Mai 2023 ihr Statut dahingehend ändern, dass, was bisher von ihr als bloße Empfehlung ausgesprochen wurde, für alle Mitgliedsstaaten zur Verpflichtung wird. Weiters soll sie bereits Maßnahmen zur Abwendung „möglicher“ Gefahren für die Gesundheit vorschreiben dürfen. Was schließlich den Machtfantasien die Krone aufsetzt, die von der WHO vorgeschriebenen Maßnahmen sollen die Menschenrechte nicht mehr berücksichtigen müssen. Die Menschenrechte sind damit de facto ausgehebelt und durch eine Duldungspflicht (Impfung, Quarantänelager, etc.) ersetzt.

Was liegt, spirituell verstanden, dieser dramatischen Transformation der Kultur von einer freien in eine Pflichtgesellschaft zugrunde? Um dieser Frage näher zu treten, wenden wir uns zunächst dem zweiten Teil des Themas, dem Pflegen, zu.

Pflegen verwirklicht innerstes Anliegen und uns selbst

Interesse, liebevolles Zuwenden, geduldiges, hoffnungsvolles Begleiten eines zukunftsoffenen Prozesses leben im pflegenden und gleichfalls im strebenden Menschen. Im Zukunftsideal offenbart sich unsere Weltanschauung. Das gilt für Utopien ebenso wie für Dystopien. Religiös geprägte Weltanschauungen hatten stets starken Pflichtcharakter, wie z.B. die zehn Gebote. Mit der Zeit der Aufklärung hat sich der Mensch von äußerlichen Geboten gelöst. Fortan sollte sein Handeln nur von dem, was man einsehen, verstehen kann bestimmt werden. Da die Einsicht sich allein auf die physisch-sinnlich Welt beschränkte, ging der Weltanschauung ihre spirituelle Dimension verloren. Rudolf Steiners Geisteswissenschaft zeigt Wege, wie wir durch Schulung, Pflege unseres Selbst, auch geistige Welten erfahren lernen können. Selbsterziehung bedeutet, dass wir den gewohnten „Ich“-Standpunkt temporär verlassen können und eine „Selbst“-Perspektive einnehmen, welche den „Ich“-Standpunkt zu reflektieren vermag. Dabei seine Einseitigkeiten erkennen und dadurch überwinden lernen, macht den Weg frei zu unserem eigenen Ideal. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“ heißt es beim Evangelisten Johannes (8,32).

Oftmals wird vom Patienten die Frage gestellt: „Warum trifft mich diese Krankheit?“ Wie jede gut gestellte Frage enthält sie bereits einen Teil der Antwort. Weil dieses Krankheitsereignis kein Zufälliges ist, sondern mit dem betreffenden Menschenwesen engstens verbunden ist. Verbunden in positiver Art, als Anstoß, Kräfte zur Heilung von Einseitigkeiten zu entwickeln, auf leiblich, seelisch und geistigem Gebiet. Eine positive Auseinandersetzung mit der Erkrankung bringt uns unserem Ideal ein Stück näher, – wir „genesen“. Etymologisch war eine alte Wortbedeutung von „genesen“: zur Welt bringen, gebären. Diesen Entwicklungsprozess zu begleiten ist Selbstverständnis ärztlichen Handels auf Grundlage der Anthroposophie Rudolf Steiners.

Das Rätsel der Widersachermacht und seine Überwindung

Kehren wir zu der eingangs gestellten Frage nach dem spirituellen Hintergrund der kulturellen Transformation zurück. Möglichst große Studien, am besten doppelblind durchgeführt (d.h. der Arzt weiß nicht, was er verordnet, der Patient nicht, was er bekommt) sollen Aufschluss über das beste Arzneimittel für alle Betroffenen geben. Quantität soll Qualität hervorbringen. Objektivität soll Subjektives ersetzen. Es charakterisiert sich damit ein Menschenbild, welches Qualität und Subjektives abschaffen möchte. Unschwer zu erkennen, dass ein solches Menschenbild wesenhafte Signatur totalitärer Regime trägt. Ein Ich, das kein Du neben sich duldet. Auch wenn es schwerfällt, wir müssen lernen Mitleid mit diesem einsamen Ich zu haben. Etwa derart, wie im dritten Mysteriendrama Rudolf Steiners im 8. Bild Strader zu der Widersachermacht Ahriman spricht: „In deinen rauen Worten klingt Schmerz aus dir und Schmerz sind sie in mir selber auch. Ich kann,  – betracht ich dich – nur klagen, weinen.“  „Aus Mitleid wissend, der reine Tor“ beschreibt Richard Wagner die Gestalt Parsifals, dem es beschieden ist die Gralsgemeinschaft zu erneuern. Sowohl Strader als auch Parsifal können uns Vorbilder sein im Überwinden der Kulturkrankheit unserer Gegenwart. Und „die freie Tat aus Liebe zur Handlung“ (Rudolf Steiner, „Philosophie der Freiheit“) mögen aus uns Pfleger einer menschenwürdigen Zukunft machen.

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