Beim Läuten der Glocken

Text: Arnulf Bastin

Abendglockengebet

Das Schöne bewundern,               Es führet den Menschen                   Und lehrt ihn vertrauen

Das Wahre behüten,                     Im Leben zu Zielen,                          Auf göttliches Walten

Das Edle verehren,                       Im Handeln zum Rechten,                In allem, was ist:

Das Gute beschließen:                 Im Fühlen zum Frieden,                   Im Weltenall,

                                                     Im Denken Zum Lichte;                    Im Seelengrund

 

Diesen Spruch schrieb Rudolf Steiner 1913 für den damals siebenjährigen Pierre Grosheintz. Er war der ältere der beiden Söhne des mit Rudolf Steiner befreundeten Baseler Zahnarztes Emil Grosheintz (1867-1946), der den Grund in Dornach zur Verfügung gestellt hatte, auf dem das Goetheanum gebaut wurde. Außerdem waren er und seine Frau die Trauzeugen bei der standesamtlichen Trauung von Rudolf Steiner und Marie von Sivers an Heiligabend 1914. Während der erste Bau, dessen Grundsteinlegung im September 1913 stattfand, ein Holzbau war, entwarf Steiner im gleichen Jahr als Wohnhaus für die Familie Grosheintz das unmittelbar daneben errichtete Haus Duldeck bereits in Beton, dem Baustoff, aus dem dann nach der Zerstörung des ersten Goetheanums in der Silvesternacht 1922/23 der zweite Goetheanumbau nicht mehr nur als großer Veranstaltungsraum, sondern auch als Sitz der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft errichtet wurde. Haus Duldeck ist wohl in seiner plastischen Durchgestaltung der revolutionärste und für mich auch schönste unter den sogenannten Nebenbauten in Dornach. Hierin aufwachsen zu dürfen war sicher ein besonderes Geschenk. Pierre Grosheintz (1906-1992) wurde übrigens nach dem 2. Weltkrieg der höchste Steuerbeamte der Schweiz.

Ich lernte diesen Spruch unter dem Titel „Beim Läuten der Glocken“ als Unterstufenschüler an der Waldorfschule kennen und schrieb ihn in der vierten Klasse in ein dickes Heft, in dem einige poetische Schätze, die ich in dieser Zeit in der Schule kennengelernt habe, versammelt sind. So enthält er für mich etwas von der Atmosphäre dieser Zeit meines Lebens, in der ich aber sicher ganz andere Aspekte darin wahrgenommen habe als heute. Obwohl er einem Kind im ersten Schulalter gegeben worden ist, handelt es sich dabei um weit mehr als ein Kindergedicht oder -gebet. Mich begleitet der Spruch nun schon mehr als fünfzig Jahre. Ich möchte im Folgenden versuchen, etwas von dem zu formulieren, was er aus meiner Sicht an Bedeutung birgt. Das kann und soll keine erschöpfende Interpretation sein. Ein solcher Spruch hat ja als sprachliches Kunstwerk immer auch noch eine andere Ebene, auf der der Rhythmus, der Bildcharakter der verwendeten Worte u. a. logisch-gedanklich nicht zu erschließende Elemente eine Rolle spielen.

Rudolf Steiner weist im Zusammenhang mit Texten, die als Meditationsinhalt gedacht sind, darauf hin, dass das Verstehen des Gedankengangs immer nur der Anfang ist, der Einstieg in die Meditation. Danach ist es notwendig, sich zunächst wieder davon zu lösen und ganz auf die Bildebene einzulassen sowie sich in lautliche und rhythmische Eigenheiten des Textes hineinzufühlen, sich zu öffnen für seelische Nuancen und den Spruch wirken zu lassen. Man gibt sich dabei ganz dem poetischen Erleben hin.

Den gedanklichen Gehalt kann man danach wieder dazunehmen. Er erscheint dann in verwandelter Form. Ob unser Spruch als Mantram zum Meditieren taugt, mag jeder selbst ausprobieren. Sicher ist, dass Steiner nicht ein siebenjähriges Kind zum Meditieren anregen wollte – das ist nur etwas für Erwachsene. Aber sich durch wiederholendes Rezitieren mit einem Spruch verbinden wirkt auch bei Kindern. Deshalb gibt es in den Waldorfschulen den gemeinsamen Morgenspruch, mit dem jeden Tag der Hauptunterricht anfängt, und jedes Jahr bis zur 8. Klasse einen individuellen Zeugnisspruch, den der Klassenlehrer für jeden Schüler gezielt ausgesucht oder selbst gedichtet hat, um ihm bei seiner Entwicklung zu helfen.

Nun zurück zur gedanklichen Ebene, zur möglichen Bedeutung des Abendglockengebets. Zunächst werden vier seelische Grundgesten angeführt, die einen, wenn man sie befolgt, zu einer positiv wertschätzenden Haltung gegenüber der Welt und den Mitmenschen führen können: bewundern, behüten, verehren und beschließen. Dazu gehört, dass man empfinden kann, was schön ist und wert bewundert zu werden. Das kann ein bedeutendes Kunstwerk sein, aber auch etwas ganz kleines Unscheinbares in der Natur oder die innere oder äußere Schönheit eines anderen Menschen. Staunen ist die Wurzel aller Kreativität. Für Wahrheit eintreten, sie gegen alles Falsche und Verlogene, das sie verdunkelt oder überdeckt, sie beschützen wollen, ist ein wichtiges Ziel, das von dem, der es sich setzt, zunächst erwartet, dass er innere Wahrhaftigkeit auch sich selbst gegenüber pflegt und sich so erst die Lauterkeit erringt, die ihm ermöglicht, wirklich Hüter der Wahrheit zu werden.

Was es bedeutet, edel zu sein, ist heute gar nicht mehr so leicht verständlich. Wir kennen den Begriff im Zusammenhang mit einem Ritter, der als Knappe Tugenden wie Demut, Tapferkeit, Ehrlichkeit, Liebe, Treue, Willensstärke, Durchhaltevermögen lernen musste, bevor er würdig war, den Ritterschlag zu erhalten. Auch im Edelstein begegnet er uns. Was macht den Stein zum Edelstein? Der Glanz, die Struktur, die Farbe hebt ihn heraus und lässt ihn so wunderbar erscheinen. Als Kind habe ich oft nasse Steine aufgehoben, die sich dann getrocknet als nicht mehr so funkelnd und edel erwiesen, wie sie zunächst erschienen waren. Adel und edel haben die gleiche sprachliche Wurzel – ein Edelmann war im Mittelalter zumindest seiner Funktion in der Standesordnung nach ein edler, in seiner gesellschaftlichen Gruppe herausgehobener Mensch. Heute ist uns klar, dass es nichts mit einem Adelsprädikat zu tun hat, ob jemand eine edle Gesinnung hat.

Jemanden verehren heißt, ihm bedingungslos folgen, nur sein Gutes sehen und dem nacheifern. Einschätzen zu lernen, ob jemand so edel ist, dass er Verehrung verdient, erfordert Urteilsfähigkeit, die in ihrem klaren Abwägen im Widerspruch zu stehen scheint zur unmittelbar aus dem Empfinden kommenden Begeisterung des Verehrens.

Was ist gut? Das ist für kleine Kinder noch einfach, die Welt teilt sich in Gut und Böse, Richtig und Falsch, Schön und Hässlich. Die Verantwortung liegt in diesem von der Nachahmung bestimmten Lebensalter bei den das Kind umgebenden Erwachsenen, die darauf achten müssen, dass sie sich vorbildhaft verhalten. Aber schon bald merkt ein Kind, dass es im Leben nicht so einfach ist, dass es zwischen weiß und schwarz viele Graustufen gibt. Als Erwachsener ist man ständig aufgerufen, sich zu entscheiden. Woher weiß man da, was gut ist? Bei schwierigen Entscheidungen ist oft das Gewissen gefordert, gerade in Fällen, wo jede Lösung positive und negative Folgen haben kann. Die Möglichkeit selbst zu entscheiden, was böse und was gut ist, ist in der Genesis mit dem Verstoß gegen das göttliche Gebot verbunden, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen. Als Konsequenz werden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben – und seitdem gestalten die Menschen die Erde.

In Rudolf Steiners Gedicht folgt nun eine Gruppe von fünf Zeilen, in denen auf die Folgen dieser erstrebenswerten Seelenhaltungen hingewiesen wird: Wenn man der Welt in dieser Weise mit Schönheitssinn, Wahrhaftigkeit, Begeisterungsfähigkeit und moralischer Integrität begegnet, kann man sich geleitet fühlen zu erstrebenswerten Zielen, sinnvollem Handeln, zwischen den Extremen ausgewogenem Fühlen und lichtvollem Denken. Fußt die durch das Verlassen des paradiesischen Schutzraums errungene Gestaltungsfreiheit auf einem soliden Fundament, kann sie zu Entscheidungen gelenkt werden, die die Menschheit und die Erde in eine gesunde Zukunft zu führen in der Lage sind. Aber diese Haltung wird uns nicht geschenkt, wir müssen sie uns immer wieder neu erarbeiten. Und in diesem Sinne können uns Rudolf Steiners Zeilen gleichsam als poetische Glockenschläge daran erinnern, unsere Ideale nicht aus den Augen zu verlieren.

In einem Notizbuch Rudolf Steiners findet sich noch folgende Ergänzung zu unserem Spruch:

Was ich empfinden kann

An Schönem, an Edlem,

An Wahrem, an Gutem,

Es sei liebevoll

In meinem Herzen empfangen

Und dankbar bewahrt.

 

(Arnulf Bastin)

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