Der halbe Mann

War einmal ein Mann, der war nur halb. Er hatte von alldem, wovon wir zwei haben, nur eines. Einen Arm, ein Bein, ein Ohr und nur ein Auge. Der halbe Mann war traurig und grämte sich sehr über sein Schicksal. Doch eines Tages erfuhr er, dass der Gott des Schicksals nahe seinem Dorf in einer riesigen Reisscheuer weilte. So schnell er konnte, eilte er zu ihm und bat ihn um ein neues, um ein besseres Schicksal, da ihm doch das Leben als halber Mann so schwer fiel. „Ich will dir eines geben“, rief der Gott mit sanfter Stimme von der Reisscheuer hinab und warf dem halben Mann ein neues Schicksalsbündel zu. Der bedankte sich, hob es auf und humpelte, so schnell er vermochte, nach Hause zurück. Dort breitete er das Bündel vor sich aus. Doch als es geöffnet vor ihm lag, war darin wieder nur ein halber Mann. Er kehrte zurück zum Gott des Schicksals und bat um ein anderes Bündel. Wieder warf ihm der Gott des Schicksals ein Schicksalsbündel zu und wieder eilte der halbe Mann voller Erwartung nach Hause, aber wieder lag darin nur ein halber Mann. Und ein drittes Mal suchte er den Gott des Schicksals auf, um für ein besseres Los zu bitten. Da senkte der Schicksalsgott einen Korb von der riesigen Reisscheuer herab und zog darin den halben Mann zu sich hinauf. Der stand nun in einem riesigen Saal, in dem hunderte und aber hunderte Schicksalsbündel geschnürt lagen. „Such es dir dein eigenes aus“, wies ihn der Gott an. Eifrig suchte der halbe Mann nach dem Bündel, das am besten zu ihm passte. Er überlegte, wog ab, dachte nach. Das eine war ihm zu klein, das andere zu groß, dieses zu leicht, das nächste zu schwer, bis er endlich das richtige gefunden hatte. Ja, er fühlte ganz tief in seinem Herzen, dass es das rechte für ihn war. Milde nickte der Gott des Schicksals, der halbe Mann bedankte sich und nachdem er wieder auf die Erde hinuntergelassen war, machte er sich glücklich auf den Heimweg. Zu Hause legte er behutsam sein selbstgewähltes Bündel vor sich auf den Boden, voller Vorfreude öffnete er es und als es offen vor ihm lag, da fand er darin wieder nur einen halben Mann. „Ein halber Mann! Ich habe es mir selber ausgesucht“, murmelte er. Und von dem Tag an fügte er sich seinem Schicksal und es war ihm nur noch halb so schwer, dass er ein halber Mann war, denn er hatte es ja selbst gewählt.

Aus dem Chinesischen nacherzählt von Peter Raffalt

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