Wachstum und Krebs

Reinhard Apel im Gespräch mit Frau Dr. Beatrix Teichmann-Wirth

„Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.“ (Goethe)

Liebe Beatrix, wir kennen uns schon relativ lange und daher bleiben wir beim vertrauten “Du”. Du kennst die Anthroposophie durch Deinen Mann, Dr. Thomas Teichmann. Du hast in Bezug auf Psychotherapie die verschiedensten Einflüsse gehabt. Es ist Dir wichtig, Menschen, die zu Dir kommen, gegenüber offen und vorurteilslos zu begegnen und ihr Wachstum und ihre Entwicklung in Freiheit zu fördern, auch durch schwere Krisen hindurch.

Mein psychotherapeutisches Tun gründet sich auf drei wesentliche Einflüsse: Der erste ist die personzentrierte Psychotherapie nach Carl Rogers1. Carl Rogers war mein erster Lehrer und ich habe ihn glücklicherweise persönlich erleben dürfen. Das ist sozusagen meine Basis, auf der alles Weitere aufbaut. Dieser Ansatz ist für mich geradezu ein Weisheitsansatz. Er geht – sehr (!) vereinfacht ausgedrückt – davon aus, dass über ein Beziehungsangebot, das von Wertschätzung, Empathie und Kongruenz/Authentizität geprägt ist, diese Qualitäten immer mehr auch in der Selbst-Beziehung wirken können. Die körperorientierte Therapie nach Wilhelm Reich lehrte mich, die Gesetze des Lebendigen und die Prozesshaftigkeit allen Lebens zu verstehen. Durch meine Zen-Buddhistische Meditationspraxis kann ich unmittelbar erfahren, wie alles sich beständig wandelt. Sie unterstützt mich in meiner Präsenz im Kontakt mit dem Klienten.

Ich arbeite schwerpunktmäßig mit Menschen, die an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, andererseits begleite ich mit Begeisterung krebskranke Menschen.

Der Titel Eures Heftes „Wachsen lassen“ hat mich sehr angesprochen, weil das „Lassen“ im Titel steht ist. Es drückt aus, dass das Wachsen kein „Machen“ sondern ein „Geschehen“ ist. man das Wachsen nicht „machen“ kann, sondern dass es geschieht. Das gefällt mir grundsätzlich. Betrachtet man jedoch den Krebs, dann wächst da ja auch etwas, flappsig ausgedrückt.

Das wäre dann nicht so sympathisch, dieses Wachsen des Tumors?

Ja genau. Das heißt, nicht jedes Wachsen ist aus unserer Sichtweise per se gut. Seit einiger Zeit wird ja in sehr wesentlichen Lebensbereichen ein dauerndes Wachsen, in welche Richtung auch immer, sehr gefördert. Hauptsache immer mehr und mehr! Ohne inneren Halt und eine Anbindung. Dabei wird übersehen, dass es außer dem äußeren Wachsen auch ein Wachstum nach Innen gibt und geben muss – ein Wachstum in die Reduktion, in den Verzicht. Das ist manchmal gesünder. Wenn das Wachsen nicht aus dem Verbundensein mit sich selbst erfolgt, beziehungsweise nicht im Kosmos, im Himmel und der Erde „wurzelt“, wenn es nicht in einer Anbindung an die horizontale und vor allem an die vertikale Achse verankert ist, dann findet ein chaotisches, ungeordnetes Wachstum statt. Das ist nicht dienlich oder sogar schädlich.

Im Blick auf das Krebsgeschehen kann ich gut zwischen einem „gesunden“, „guten“ und einem nicht erstrebenswerten Wachsen unterscheiden. Für ein gutes Wachstum braucht es eine Ordnung.

Man weiß, dass Krebszellen aus einer gesamtorganismischen Ordnung gefallen sind. Fintelmann, ein anthroposophischer Arzt spricht davon, dass das Ich2 des Patienten geschwächt ist: “Das Ich an sich ist gesund, kann nicht krank werden, Aber es kann z.B. nicht stark genug sein, es kann nicht aufmerksam sein. Das ist ganz wichtig. Und es ist eine der epidemiologischen Begleiterscheinungen der Krebskrankheit, dass die Menschen heute systematisch daran gehindert werden, vom Ich aus aufmerksam zu sein. Sie haben keine Ich-Präsenz. Das Ich ist in der Krebskrankheit eigentlich nicht krank, sondern es ist nicht präsent. Der Mensch, der sich zu seiner Ich-Präsenz schult, der dürfte gegen Krebs sehr stark geschützt sein.” Fintelmann3 (2009 S.24)

Dadurch kann sich die einzelne Zelle aus dem gesamtheitlichen Verband herauslösen und einem zelleigenen Gesetz des Wachstums folgen, als wäre sie eine unabhängige Zelle außerhalb eines Organismus. Sie dient nicht (mehr) dem Funktionieren des Ganzen, vielmehr schadet sie dem Gesamtorganismus.

Das ergibt das Wuchern?

Genau. In diesem Sinn ist mein Ansatz, den Menschen wiederum zu sich, in diese ordnende Kraft des Ich einzuladen oder diese Ich – Wirkung zu unterstützen.

Du siehst einen inneren Zusammenhang zum Wachsen des Karzinoms?

Ja. Dieser Zusammenhang ergibt sich mir sowohl aus der Erfahrung mit krebskranken Menschen als auch aus meiner eigenen Krebserkrankung. Schaut man genauer, dann hat lange Zeit vor der Diagnose bereits ein Entfremdungsprozess stattgefunden. Die Menschen sagen zuweilen auch wortwörtlich: “Ich habe mich selbst verloren.” Sie sind vielleicht gewachsen, indem sie etwas aufgebaut haben, indem sie bekannt oder reich geworden sind, doch die Seelenqualität des Lebens ist verarmt. Im Erleben drückt sich dieser Verlust der eigenen Lebensmelodie, wie das Le Shan nennt, in einer Freudlosigkeit, in einem Mangel an Be-Geist-erung, bis zu einer Trostlosigkeit und einer Verzweiflung aus.

Und dann tritt die Krankheit in unser Leben. Und diese Krankheit kann uns helfen, wieder zu uns zu kommen.

Das bedeutet?

Dass auch über Krankheit, über schwere Schicksalsschläge und Verlusterlebnisse seelische Wachstumsimpulse ausgelöst werden können.

Du meinst hier auf der Erde natürlich. Wenn wir inkarniert sind.

Ja genau. Ich gehe davon aus, dass wir in der geistigen Welt einen Entschluss zu dieser Inkarnation, eine Art Seelenauftrag fassen. Im Begräbnisritual der Christengemeinschaft4 versucht der Priester die Seelenspur der Verstorbenen zu erfassen und zu schauen, wie sich diese in der Biographie ausdrückt.

Ist das der Auftrag, den sich die Seele selber für ihr Wachstum in einer bestimmten Inkarnation stellt? Ich hätte mir da vor der Geburt eine Art Aufgabenstellung zugeteilt?

Ja. Meine Wachstumsmöglichkeit.

Wenn wir doch nur auf die eigene Aufgabenstellung hingewiesen würden oder sie selbst erkennen könnten!

Ja. Die meisten Menschen nehmen bedauerlicherweise ihre Seelenstimme nicht wahr, sie fühlen zu wenig in sich hinein. Es fällt ja leider dem Vergessen anheim, da wir in unserem Tun hauptsächlich auf das Außen fokusiert sind.

Beginnen wir bereits während des Geburtsvorganges den eigenen Seelenplan oder Seelenauftrag zu vergessen?

Genau. Aber das muss nicht so sein. In Burkina Faso lebt ein Volk, die Dagara, wo die Ahnen und die Ältesten dem Kind helfen, sich an diesen Seelenauftrag zu erinnern. Die Ältesten, die der geistigen Welt bereits am nächsten sind, halten sozusagen diesen Seelenauftrag wach. Das zu wissen berührt und inspiriert mich sehr.

In unserer Gesellschaft passiert diese „Abwegigkeit von der Bestimmung“, wie das Viktor von Weizsäcker nennt, vor allem durch Bewertungsbedingungen, die an das Kind angelegt werden. Das Kind lernt von klein auf, welche Verhaltensweisen und Ausdrucksformen mit Anerkennung und Zuneigung belohnt werden. Jemand hat zum Beispiel eine große künstlerische Begabung, aber die Eltern fördern diese nicht, weil sie davon ausgehen, dass man davon nicht leben kann. So lebt dieser Mensch tagtäglich ein Leben, das ihn zwar absichert, aber nicht seines ist, und welches, – und das ist jetzt wichtig – von der Seele nicht begrüßt wird.

Es scheint mir das Allerwichtigste zu sein, Menschen dabei zu unterstützen, zu erkennen, in welche „Schräglage“ sie diesbezüglich gekommen sind, in den Jahren vor der Erkrankung. Es muss nicht Krebs daraus folgen, es könnte auch eine psychische Krankheit wie eine Depression sein. Die Krise ist dann ein Aufruf in dem Sinne: Ich muss/kann und darf mich mir selbst zuwenden! Ich biete also keinen „Reparaturansatz“, sondern würdige die Krebserkrankung als Gelegenheit, als eine Art Weckruf. Der Körper macht aufmerksam darauf, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich berücksichtige dabei nicht nur die Frage nach den Ursachen, sondern verstehe die Krankheit in einem finalen, richtungsweisenden Sinn. Man sollte als Begleiterin oder Begleiter bei Krebs jedoch nicht eindimensional denken. Krebs ist ein multikausales Geschehen, das auch durch äußere Gifte und die Lebensführung verursacht werden kann.

Du willst also nicht zwingend zu seelischen Gründen der Krebserkrankung hinlenken?

Ja. Das Wichtigste ist, einen bedingungsfreien Raum zu eröffnen. Die erste Arbeit, die ich als Therapeutin zu leisten habe, ist immer wieder, von meinen Konzepten Abstand zu nehmen. Es braucht einen Ausdrucksraum für den anderen im Gespräch. Dieser entsteht dadurch, dass ich mir meiner Urteile, meiner Bewertungen, meiner Konzepte als Therapeutin bewusst bin und sie zur Seite stelle. Ich bemühe mich, die innere Stimme des anderen zu Wort kommen zu lassen. Nach meiner Erfahrung weiß jeder Mensch ganz genau Bescheid – über  die Ursachen, den Sinn seiner Erkrankung, eine notwendige Neuausrichtung usw.. Wenn man einen freien Raum bereitet und das höhere oder, wenn man will, ein tieferes Wissen ausdrücken darf, dann geschieht ein heilsames Seelenwachstum.

Ich frage den anderen mit einem warmherzigen Interesse. Ich richte mich an den, der – wie Gendlin sagt – drinnen ist, in dem Wissen, dass immer jemand – wesenhaft – drinnen ist.

Diesen, der drinnen ist, bezeuge ich.

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1 Der Klienten-/Personzentrierte Ansatz von Carl Rogers (1902–1987), gilt heute als eines der klassischen Psychotherapieverfahren der humanistischen Psychologie.

2 Der nicht anthroposophisch gebildete Leser möge die genaue Bedeutung des “Ich” als höchstes Wesensglied des Menschen der Fachliteratur entnehmen oder anthrowiki.at befragen.

3 Fintelmann, V. (2009) im Gespräch mit Wolfgang Weihrauch. Flensburger Heft 1/2009

4 Die Christengemeinschaft – Bewegung für religiöse Erneuerung ist eine 1922 gegründete religiöse Strömung, die aus der Anthroposophie heraus angeregt wurde, aber nicht Teil der Anthroposophie im engeren Sinne ist.

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