Die herrlichste Form der Zeit

»Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding: Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann, auf einmal, da spürt man nichts als sie. Sie ist um uns herum… sie ist auch in uns drinnen…«
So singt die Marschallin im Rosenkavalier von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss.

Text: Ingrid Haselberger

Im Gegensatz zu Malerei, Bildhauerei oder Architektur ist die Musik eine Zeit-Kunst. Sie entsteht und vergeht – unwiederholbar wie jeder einzelne Augenblick unseres Lebens.
Musik ist Bewegung: am Beginn eines jeden Tones steht die Bewegung im Musiker. Sie bringt die Stimmbänder in der menschlichen Kehle, die Saiten der Geige, die Luftsäule in der Flöte in Schwingung und ermöglicht so das Erklingen des Tones.

Auch die Zeit ist zunächst ein inneres Geschehen. Wir „erzeugen” sie denkend – indem wir einerseits Veränderung und andererseits uns selbst als den dauerhaften Kern jeder Veränderung empfinden: wir ordnen unsere wechselnden Eindrücke auf einer „Zeitlinie” an und „stellen“ uns selber auf einen „Punkt”, der unaufhörlich „vorangeschoben” wird. „Vor” uns liegt die Zukunft, „hinter” uns die Vergangenheit – und all diese in Anführungszeichen gesetzten Begriffe nehmen wir aus unseren räumlichen Vorstellungen.

Auch beim Messen der Zeit orientieren wir uns an räumlichen Veränderungen gegenüber Gleichbleibendem, wie dem Fließen des Sandes in der Sanduhr oder der Bewegung der Zeiger auf dem Zifferblatt.
Früher definierten wir die Sekunde anhand der Bewegung der Erde um sich selbst und um die Sonne – erst seit 1967 ist sie zur Atomsekunde geworden und bestimmt sich nach inner-atomaren Vorgängen, also einer ohne technische Hilfsmittel nicht wahrnehmbaren Bewegung.

Nach und nach haben wir so die Zeit von einem rein geistigen, inneren Geschehen zu einem irdisch-physischen, unabhängig von uns selbst existierenden »Ding« gemacht, zu einem vollkommen regelmäßigen Maßstab, der unerbittlich in eine einzige Richtung weist – und sehr erfolgreich richten wir nun unser Leben nach diesem äußeren Maßstab.

Das spiegelt sich auch in der Musik: früher war der Pulsschlag maßgebend für das Tempo eines Musikstücks: andante (gehend), allegro (fröhlich), vivace (lebhaft), maestoso (majestätisch)… Der Musiker machte sich innerlich fröhlich oder lebhaft oder majestätisch, wodurch sich sein Pulsschlag veränderte und wie selbstverständlich das richtige Tempo ergab.
Seit der Erfindung des Metronoms aber kann der Takt auch mechanisch vorgegeben werden, ganz regelmäßig, unabhängig vom Pulsschlag des Musikers (übrigens gar nicht immer im Sinne des Komponisten: KS Hildegard Rössel-Majdan erzählte von einer Probe für eine Oper des damaligen Operndirektors Franz Salmhofer. An einer Stelle trieb der Korrepetitor sie an, denn sie sang langsamer, als es die Metronomangabe des Komponisten verlangte. Da rief Salmhofer entrüstet: »Was bedeutet schon eine Metronomzahl! Hören Sie denn nicht, wie schön sie singt?«).

Unsere gegenständliche, räumliche Denkweise führt dazu, dass wir mehr auf Gleichbleibendes blicken als auf Veränderungen. Über Zeit, Veränderung, Bewegung sprechen wir in Substantiven (die Bestehendes bezeichnen, lat. sub-stare, darunter stehen) statt in Verben, Zeitwörtern.

Rudolf Steiner macht darauf aufmerksam, dass in der geistigen Welt, der Sphäre, in der sich das nicht an den physischen Leib gebundene Menschsein vollzieht, substantivische Sprache gar nicht verstanden wird. Im Reich der Richtungen und Bewegungen kommen wir nicht weit mit unserem Gegenstandsbewusstsein – und so „verzeitwortet” Rudolf Steiner viele Begriffe, spricht von erwesen oder erkraften…

Wenn wir musizieren, üben wir den aktiven, kreativen Umgang mit Zeit und Veränderung, Richtung und Geschwindigkeit. Denn die lebendige, innere Zeit der Musik (ebenso wie des Lebens) verläuft nicht regelmäßig: Kein Augenblick gleicht dem anderen! In jedem Musikstück, wie in jeder Lebens-Erinnerung, ragen einzelne Zeit-Punkte hervor, andere verschwimmen miteinander; je nachdem, wie wir sie erleben, kommt uns eine Stunde wie eine Minute vor, oder eine Minute wie eine Stunde – und auch das menschliche Herz schlägt einmal schnell, einmal langsamer, je nach unserer inneren oder äußeren Bewegung.

Und anders als die äußere Zeit, von der wir den Eindruck haben, dass sie in unumkehrbarer Richtung von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft fließt, kann die innere Zeit sich auch in umgekehrter Richtung bewegen: ein in der Zukunft liegendes Ziel bestimmt nicht nur meinen Weg in der Gegenwart, sondern zeigt in der Rückschau die Spuren seiner Vorbereitung auch weit in der Vergangenheit, oft noch ehe ich davon wusste…

In der Musik erleben wir ganz selbstverständlich unterschiedliche Geschwindigkeiten: die Frequenz der Schwingung (Tonhöhe); die Geschwindigkeit, mit der die einzelnen Töne aufeinander folgen (Rhythmus); die (bloß gedachte) Geschwindigkeit der Taktschläge (Tempo); die Geschwindigkeit der inneren Bewegung (Emotion, wörtlich: Heraus-Bewegung); die Geschwindigkeit der äußeren, körperlichen Bewegung; und nicht zuletzt die Geschwindigkeit unserer Gedanken, die den gegenwärtig erklingenden Tönen oft weit in die Zukunft vorauseilen…

Auch wenn es uns meist nicht bewusst ist: Im Leben ist es ähnlich. Rudolf Steiner spricht (GA 73) von den »verschiedenen ineinandergeschichteten Geschwindigkeiten« unseres Denkens, Fühlens und Wollens, von denen wir uns meist keine Vorstellung machen, die aber erst das innere Entstehen des Bewusstseins bewirken.

Ähnlich wie die Sonne sich im See spiegelt, spiegeln wir die Vorgänge in unserem Inneren als geordnete Zeit in die Außenwelt.
Aber wir sind noch nicht sehr geübt darin, den Pendelschlag zwischen den Vorgängen in unserem Inneren und ihrem Spiegelbild „dort draußen“ mit unserem Bewusstsein zu begleiten…

An den Schluss dieser kleinen Betrachtung möchte ich eine Stelle aus Franz Werfels utopischem Roman „Stern der Ungeborenen“ setzen:
»… so möchte ich die wichtigste aller Zeitdimensionen, in denen der Mensch lebt, nicht unbeschworen lassen. Es ist die „geistige Zeit“.
Diese herrlichste Form der Zeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie kein Nacheinander kennt, dass sie in jedem ihrer Teile den ganzen Weltlauf enthält, dass sie dem, der ihr angehört, die Freiheit gibt, regellos von einem ihrer Punkte zum andern zu springen und ihn in demselben Augenblick zum Zeugen des Ersten Schöpfungstages und des Jüngsten Gerichts macht. Auf der geistigen Zeit beruhen die drei Kräfte, die den Menschen erst zum Menschen erheben: Die Erinnerung, die Ahnung und der Glaube an das Unbeweisbare. Die schlimmsten Feinde der geistigen Zeit aber sind die Armen, die nicht regellos von Zeitklippe zu Zeitklippe springen können, die nicht von Erinnerung und Ahnung umsponnen sind und die nichts Unbeweisbares glauben dürfen.
Doch nur die geistige Zeit, die uns durchströmt und die realisiert, was gewesen ist, und was sein wird und sogar das, was niemals gewesen ist und niemals sein wird, gibt uns die Kühnheit, den „retrogenetischen Humus“ und die „Rückentwicklung der lebendigen Form“ und die „astromentale Überwindung des Sterbens“ [drei Begriffe aus dem Roman, I.H.] hinzunehmen als das, was sie sind: In der Dämmerung der Ferne vorerschaute Möglichkeiten, welche die Natur und die menschliche Vernunft nützen oder verwerfen wird.«

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