Die Königstochter in der Flammenburg

Text: Christa Horvat, Wien

Das Märchen finden wir in der Urfassung in „Märchen seit Grimm“ Hrsg. P. Zaunert. In Bildern wird erzählt, welche Aufgaben zu erfüllen sind, wollen wir das Gute in uns für die Welt nicht nur beschließen, sondern auch erschließen. Das Märchen spricht da vom Erlösen der Prinzessin aus der Gefangenschaft des Drachen – der Egoität, der Leidenschaften, der unreflektierten Gewohnheiten, dem einseitigen Intellektualismus, den dunklen Kräften in uns. In den Sagen und Märchen ist der Drache ein Bild für diese Kräfte. Er will verhindern, dass wir aus Einsicht und Freiheit handeln und die Königstochter, in diesem Falle aus der Flammenburg, der Welt des Lichtes und der Weisheit, erlösen.

Im alten China und anderen Kulturen war der Drache ein Bild für die in der Natur wirksame bewegende Kraft, der Schatzhüter des Kosmos. Der Kaiser übernahm die Verantwortung für die Drachenkräfte der Natur und lenkte sie in richtige Bahnen.

Im Laufe der Entwicklung hat sich aber die Persönlichkeitsstruktur des Menschen verändert. Sein Bewusstsein erwacht und er verliert die Einheit mit der Welt (Sündenfall). Aus Selbstgefühl wird Selbstsucht, aus der Ich-Entwicklung Egoismus. Die Ehrfurcht vor den Kräften der Natur nimmt ab, die Einheit mit der Welt geht verloren, die Ausbeutung der Natur beginnt. Entkoppelt von der Ordnung im Kosmos werden die Drachenkräfte zu Verführermächten.

Wie ist es möglich, diese polaren Kräfte vom Schatzhüter des Kosmos zur dunklen Verführermacht wieder zu vereinen und auf eine höhere Stufe zu heben? Das Märchen zeigt uns den Weg.

Die Königstochter in der Flammenburg

Das Märchen erzählt von einem Mann, der so viele Kinder hat als Löcher sind in einem Sieb (Stammvater Adam?) und für das Neugeborene keinen Paten mehr finden kann. So bittet er einen alten Mann, dem er begegnet, dieses Amt zu übernehmen. Der tut es und schenkt dem Knaben zur Taufe einen jungen Stier. Die Stirne des Stiers ziert ein goldener Stern und er kann sprechen. Er ist das Bild für unsere erwachenden Willenskräfte und für die Veränderung der Persönlichkeitsstruktur der Menschen.

Gemeinsam wachsen die beiden heran. Sobald er alt genug ist, führt der Knabe den Stier täglich auf die Weide. Da fordert der Stier den Knaben auf zu schlafen und springt auf die Himmelswiese um goldene Sternenblumen zu fressen. Das will uns sagen, dass, wenn wir schlafen, unser Wille im Zuge unserer Entwicklung heranwächst und sich von Sternenweisheit ernährt.

Der Knabe wird zum jungen Mann und der Stier fordert ihn auf, die Königstochter aus der Flammenburg, die von einem Drachen gefangen gehalten wird, zu erlösen. Und so machen sie sich auf den Weg. Den versperrt ihnen eine riesige Mauer. Der Knabe will schon aufgeben, aber der Stier nimmt Anlauf und stößt die Mauer um. Tatkraft hat gesiegt. Im Märchen geht das ganz leicht. In der Realität sind neue Wege, die gegangen werden wollen, um das Gute in die Welt zu bringen, von einer Mauer von Widerständen, Ablehnung, finanzieller Not, Einsamkeit und oft auch von organisatorischen Problemen versperrt.

Aber wir tragen die Willenskräfte, den Stier, die Sternenweisheit verborgen in uns. Die gilt es nun in unser Tagesbewusstsein einzubeziehen. So lernen wir, dem Schicksal mit Hingabe zu begegnen; mutig und standhaft den Weg nicht aus den Augen zu verlieren, alle Hindernisse hinzunehmen, denn sie fördern Entwicklungsmöglichkeiten und weisen auf unsere Schwächen hin, die wir überwinden können. Es gibt viel zu lernen! Aber Tatkraft alleine genügt nicht, um zum Ziel zu kommen.

Sie reiten weiter und kommen zu einem großen Meer. Der Knabe will schon aufgeben, aber der Stier neigt den Kopf zum Wasser und säuft das ganze Meer aus. Da können sie auf einer Wiese weiterziehen.

Das Element Wasser ist im Märchen Bild für das Seelische. Sprechen wir doch von „Wogen der Leidenschaften“ oder „das Wasser steht mir bis zum Hals“. Wir verlieren den Boden unter den Füßen und werden mit Ehrgeiz, Eitelkeit, Eifersucht, Angst, Hass, Sympathie und Antipathie konfrontiert. Demütig und angstfrei geht es nun darum, an sich selbst zu arbeiten. Seine Gefühle und Leidenschaften aufmerksam zu beobachten und zu beurteilen. Den Fehler bei sich suchen, nicht bei den anderen. (Hilfe bietet das Üben der Monatstugenden von Rudolf Steiner). Der Wille kann die Macht der Gefühle zähmen und zu Positivität und Gelassenheit führen. Aber das alleine genügt nicht um zum Ziel zu kommen.

Da kommen sie zur Flammenburg und wieder will der Knabe umkehren. Da speit und speit das Stierlein das ganze Meer aus, da müssen die Flammen verlöschen.

Die Gelassenheit, die sich der Knabe erworben hat, vereinigt sich nun mit dem Licht der Erkenntnis und Herzenswärme. Feuer ist im Märchen aber auch ein Bild für einen Läuterungsprozess. Das irdische Feuer der Begeisterung für eine Sache will sich mit dem himmlischen Feuer verbinden, dem Licht der Weisheit, der himmlischen Sophia, deren Bild die Königstochter ist, die vom Drachen bewacht wird. Erkenntniswille ist in dem Knaben herangereift. Er ist nahe am Ziel, hat es aber noch nicht erreicht.

Da stehen sie vor der Drachenburg und der Knabe will umkehren, denn der Drache ist viel zu mächtig und er hat kein Schwert. „Dreimal habe ich dir geholfen nun musst du dir selber helfen und mit dem Drachen kämpfen, hast du Mut?“ „Ja“ sagt der Knabe.

Das Stierlein verhilft ihm zu einem Schwert und so gestärkt fordert der Knabe den Drachen heraus und er besiegt ihn. Er vereint sich mit der Königstochter und wird König.

Wenn es glückt, sein Ziel zu verwirklichen, das Gute in die Welt zu bringen, ist das eine große Freude. Anders als im Märchen wird in der Realität des irdischen Lebens diese Leistung aber nicht immer anerkannt und geschätzt. Viele Biografien zeigen, dass besondere Leistungen häufig erst nach dem Ableben des Schöpfers in ihrer Bedeutung erkannt werden. Aber die gelebte Positivität und Gelassenheit, der Erkenntniswille und das Verständnis für das Karma geben die Gewissheit, dass diese Taten nicht vergebens gewesen sind und einen Anstoß bilden, die Welt zu verbessern. Dieser Anstoß wird weiterwachsen und am Ende zur Blüte führen. Dann haben sich die Polaritäten der Drachennatur auf einer höheren Ebene vereint und entwickelt, die Freiheit entfaltet sich als königlicher Wille, Verantwortung für das Weltgeschehen zu übernehmen. Diese Verantwortung haben wir alle.

Literaturliste:

Christa Horvat, Erzähl mir ein Märchen, Vom Ursprung und Wesen des Volksmärchens, BoD 2016

Ortrud Schubart-Stumpfe, Der Kampf mit dem Drachen, Urachhaus 1999

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