Edel sei der Mensch

Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen. …

Der Anfang von Goethes Gedicht „Das Göttliche“ will uns sagen, dass uns etwas von allen anderen Wesen unterscheidet – der Mensch „allein“ ist fähig edel, hilfreich und gut zu sein. Eine gewagte Behauptung. Im weiteren Verlauf des Gedichtes erklärt er: „Die Natur ist unfühlend. Die Sonne leuchtet über Bös‘ und Gute. Nur der Mensch unterscheidet, wählet und richtet; kann heilen und retten …“

Woraus schöpft er diese Ansicht? Edel und sittlich gut zu sein, ist das eine spezifisch menschliche Eigenart? Man sagt doch auch zu Steinen „Edelstein“ oder das ist ein edler Stoff, dieses Kleid sieht edel aus etc. Dazu kann man fragen, ob es „nur“ der Mensch ist, der etwas als edel erkennt, bzw. fähig ist, Dinge zu veredeln. Hat das Edle am Menschen etwas mit besonderer physischer Erscheinung zu tun oder ist damit etwas anderes gemeint? Früher war man Edelmann/-frau durch Geburt. Manche Boulevardmedien wollen zwar dem Ruf gegenwärtiger Adelsgeschlechter verehrungswürdigen Glanz verleihen, aber heute glaubt kaum jemand mehr, dass es das blaue Blut in den Adern ist, das jemanden zum edlen Menschen macht. Nicht der von Blutskräften getriebene, sondern der sich selbst treibende und sich nach sich selbst formende Mensch ist heute vonnöten.

„Der Mensch kann sich zum Sittlich-Guten veredeln, da er fähig ist, mit Bewusstsein und Willen vernünftig zu handeln. Alle anderen Dinge müssen, der Mensch ist das Wesen, welches will“ (frei nach F. Schiller). Er findet in sich eine Kraft, durch die er zu moralischer Selbstkultivierung fähig ist und tut das Gute, weil er es liebt und es vernünftig findet, so zu handeln. Verstandes- und Gemütsregungen ruft er sich ins Bewusstsein und bringt beide in Einklang.

Sehr treffend bringt das Christian Morgenstern zum Ausdruck:

Geschöpf nicht mehr, Gebieter der Gedanken,
des Willens Herr, nicht mehr in Willens Frone,
der flutenden Empfindung Maß und Meister,

zu tief, um an Verneinung zu erkranken,
zu frei, als dass Verstocktheit in ihm wohne:
So bindet sich ein Mensch ans Reich der Geister:
So findet er den Pfad zum Thron der Throne.

Aus: „Wir fanden einen Pfad“ von Christian Morgenstern

N. Liszt

Das ganze Goethegedicht:

Das Göttliche

Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.

Heil den unbekannten
Höhern Wesen,
Die wir ahnen!
Ihnen gleiche der Mensch!
Sein Beispiel lehr’ uns
Jene glauben.

Denn unfühlend
Ist die Natur:
Es leuchtet die Sonne
Über Bös’ und Gute,
Und dem Verbrecher
Glänzen, wie dem Besten
Der Mond und die Sterne.

Wind und Ströme,
Donner und Hagel
Rauschen ihren Weg
Und ergreifen
Vorüber eilend
Einen um den andern.

Auch so das Glück
Tappt unter die Menge,
Faßt bald des Knaben
Lockige Unschuld,
Bald auch den kahlen
Schuldigen Scheitel.

Nach ewigen, ehrnen,
Großen Gesetzen
Müssen wir alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden.

Nur allein der Mensch
Vermag das Unmögliche:
Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.

Er allein darf
Den Guten lohnen,
Den Bösen strafen,
Heilen und retten,
Alles Irrende, Schweifende
Nützlich verbinden.

Und wir verehren
Die Unsterblichen,
Als wären sie Menschen,
Täten im Großen,
Was der Beste im Kleinen
Tut oder möchte.

Der edle Mensch
Sei hilfreich und gut!
Unermüdet schaff’ er
Das Nützliche, Rechte,
Sei uns ein Vorbild
Jener geahneten Wesen!

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