Edelmut

Text: W. Schaffer

In früheren Zeiten hob sich das Verehrungswürdige und Edle im Leben der Menschen noch deutlicher von den Bedingungen des Alltages ab. Der Glaube an Gott und die Pflicht zum Gehorsam für alle ihm Untergebenen bestimmte das Leben von Grund auf viel stärker. Verehrung galt diesem Göttlichen und allem, was von ihm geschaffen in der Natur und in den Menschen erkennbar wurde. Dem Verehrungswürdigen wurden die verfügbaren Seelenkräfte hingegeben. Obwohl die allermeisten Menschen keinen Anteil hatten an den Gütern derer, die durch Gottes Vorsehung die Herrschaft innehatten, fühlten sie sich doch eingebettet in einen großen sinnvollen Zusammenhang. Die Kraft der Verehrung galt ihnen auch als Zeichen des Anteils, den sie am göttlichen Schöpfungsplan hier auf Erden selbst unter ungünstigen Lebensbedingungen aufrechterhielten. Mit dem Verblassen der Gottesidee und der dem Göttlichen innewohnenden Autorität im Leben der Menschen versiegten auch die Quellorte der Verehrung. Durch das Heraufkommen der Anschauung, dass die Würde und der «Edelmut» den Menschen auch ganz allgemein und unabhängig von Herkunft und Vererbung auszeichnen, gewann auch die Frage nach dem Ansehen von Würdenträgern im öffentlichen Zusammenhang neue Bedeutung. Allzu oft entpuppte sich die Herleitung eines Machtanspruches über andere Menschen aus den Rechten der Geburt und des sozialen Standes als bloße Tarnung des reinen Egoismus. Mit dem Umbruch der sozialen Ordnung im Laufe des vergangenen Jahrhunderts sind zwar alle Menschen gleichberechtigt vor dem Gesetz, weiterhin und noch verstärkt aber nicht gleich an Eigentum und Einfluss. Wir leben heute in sozialen Umständen denen Verehrung, Bewunderung und Anerkennung eher suspekt geworden sind. Am unmittelbarsten wird sie noch den Menschen und Institutionen, die Reichtum und Macht tatsächlich innehaben, zugesprochen. Im sozialen Geschehen herrschen aber häufig bereits direkt aus der Produktwelt übernommene Richtlinien. Kritik bestimmt den Wert eines Menschen oder des geschaffenen Produktes. Nur was einer solchen Kritik standhalten kann, wird schließlich als wertvoll und wünschenswert anerkannt und angestrebt. Das Leistungsstreben und die Beurteilung von Menschen in Form von Noten beginnt bekanntlich bereits in den ersten Schuljahren. Den wenigen sehr guten «Einsern» stehen dann sehr viele nicht so «gute» Menschen gegenüber. Dieses vergleichende Bewerten zieht sich weiter durch das ganze Leben. So bleibt zum Beispiel im Vergleich mit den modellhaft schönen Menschengestalten, die durch Werbung als Ideale vorgeführt werden, fast jeder Durchschnittsmensch mangelhaft übrig. Diese Normierungen wirken auf die unbewussten Anteile des Seelenlebens der Menschen und prägen unser soziales Fühlen in bestimmendem Maße. Zweifellos hat uns diese Vorgangsweise besonders im Bereich des Produzierens und Konsumierens zu großartigen Erfolgen verholfen. Die Spuren dieser kulturellen Entwicklung im Haushalt der Natur und in der Seele der Menschen sind jedenfalls sehr oft erschreckend.

Achtsamkeit auf allen Wegen

Es hat sich mittlerweile bereits eine Bewegung entwickelt, durch die Verehrungswürdigkeit und Achtung für Edles in der Welt zur wieder mehr Geltung kommen kann. Entnommen aus dem religiösen Bewusstsein fernöstlicher Kulturbereiche hat diese Bewegung den Begriff der «Achtsamkeit» in die von Kritik getriebene westliche Zivilisation hereingeführt. Achtsamkeit ist dabei die Bemühung, ein erhöhtes Bewusstsein der äußerlich sinnlichen und der innerlich seelischen Umgebung gegenüber zu entwickeln, in der wir leben. Erhöhte Achtsamkeit auf die Vorgänge des gesamten Kosmos und der dazugehörigen irdischen Natur sind dabei das große Ziel. Zwischenmenschlich sind die seelisch – geistigen Äußerungen der Mitmenschen und die geschärfte Beobachtung der persönlichen Gedanken, Gefühle und Willensregungen Gegenstand von Achtsamkeit. Eine sehr praktische Wirkung dieses feineren Zuges im Lebenswandel ist die Vermeidung von Unstimmigkeiten und eine ganz allgemeine Harmonisierung der Lebensverhältnisse. Daraus kann auch der vermehrte Wunsch nach einem möglichst langen, glücklichen Leben entstehen. Zur Erfüllung dieses Wunsches gehören einerseits der Zugang zu einer medizinischen Betreuung, die Krankheiten schon im Entstehungsprozess erkennt als auch ein entsprechendes Angebot von gesunden Nahrungsmitteln. Damit erhöht sich auch die Wertigkeit, die gesunder Nahrung mittlerweile wieder beigemessen wird. Lange Zeit galt das Kriterium, wie billig man Lebensmittel einkaufen kann als entscheidend. Mit der Erkenntnis, dass industrielle Landwirtschaft sich eher ungünstig auf die Qualität von Lebensmitteln auswirkt und die Folgen einer solchen Landwirtschaft die Umwelt stark belasten, kam das Prinzip der biologischen Landwirtschaft in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Mutig vorausdenkende Menschen haben die biologischen Produkte aus der Nische, in der sie sich immer gehalten hatten, herausgeholt und mitten in den Supermarkt gestellt. Zwar steht zweifellos das eigene Wohl auf dem Weg zu einem gesunden Leben mit gesunden Nahrungsmitteln im Vordergrund, aber auch die Anerkennung der Bauern, die auf künstliche Düngemittel und chemische Präparate verzichten, ist wesentlich gewachsen. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung bildet das derzeitige große Interesse an biologisch-dynamisch erzeugten Lebensmitteln. Sie finden sich mittlerweile auch in fast allen Regalen der großen Supermarktketten in Österreich wieder. Damit ist ein großer Schritt in der Wiedergewinnung der Souveränität in der Versorgung mit gesunden Nahrungsmitteln gelungen, die sowohl aus der physischen als auch aus der eigenen «geistigen» Heimat stammen. Die Anregungen zu der biologisch-dynamischen Landwirtschaft vermitteln ja gemäß Rudolf Steiner der irdischen Natur verstärkt die Kräfte aus dem übersinnlich-kosmischen Bereich, in dem auch die menschliche Wesenheit ihren eigentlichen Ursprung hat.

Steine statt Brot

Wenn wir nun dieses Thema «Gesunde Nahrung für einen gesunden Körper» übertragen auf das Seelische und Geistige, so spricht sich Rudolf Steiner schon ganz am Anfang seines Schulungsweges dazu deutlich aus. So wie der physische Leib gesunde Nahrung braucht, um sich gesund zu erhalten, so braucht auch die Seele Gefühle, die sie stärken und kräftigen. Achtung, Bewunderung und Verehrung der Wahrheit und Erkenntnis ihr gegenüber sind solche nährenden, die Seele gesund und kräftig erhaltenden Gefühle. Diese positive Haltung der Welt und dem Leben gegenüber muss sich der Mensch allerdings in unseren gegenwärtigen Verhältnissen in völliger Eigenverantwortung regelrecht anerziehen. Jeder kann sich selbst prüfen, wie viel leichter man tagtäglich in eine ablehnende, kritische Haltung verfällt, als sich den Lebensumständen gegenüber spontan positiv und aktiv bewundernd zu verhalten. Unterschätzung, Verleugnung und Missachtung der Welt und dem Leben gegenüber zu entwickeln, bedeutet jedenfalls – bildlich gesprochen – der eigenen Seele Steine statt Brot zur Nahrung zu geben. Solche Speise ist geistig wertlos und führt zu einer Verhärtung des inneren Lebens. Es geht keineswegs darum, Kritik im Sinne einer möglichen Verbesserung mangelhafter Verhältnisse prinzipiell zu verleugnen oder existierende Schwächen zu ignorieren. Ganz im Gegenteil kommt es darauf an, wie diese Erkenntnisse in der Seele wirken. Jeder Augenblick, in dem wir uns des reflexartigen Anschwellens eines Gefühls von Abwertung und Missachtung bewusstwerden und dabei innehalten, bringt uns weiter. Wer es dann noch schafft, sich energisch und aktiv zu einer inneren Haltung von Achtung und Verehrung den gewiss auch irgendwo verborgenen positiven Aspekten dieser Situation gegenüber zu überwinden, hat einen Sieg in seiner Seele errungen.

Adelstand durch Edelmut

Veredelung bedeutet auch, etwas Bestehendes mit einer neuen Eigenschaft zu überformen. Wenn es sich um eine Pflanze handelt wie z.B. einen Baum, geschieht Veredelung durch Einsetzen eines neuen Triebes. Der eingepflanzte Zweig verwächst mit den Grundlagen des bestehenden Gehölzes, entwickelt sich jedoch seinem eigenen Vermögen nach zu einem neuen Zweig. Er unterscheidet sich von den ihm zugrundeliegenden Ästen und Trieben in der Frucht, die seinen befruchteten Blüten entwachsen. Zumeist sind die Süße und das Aroma entscheidend für den Grad an Veredelung im Vergleich mit den ursprünglichen wilden Trieben und ihren bitteren Früchten. Überträgt man dieses Bild wieder auf unsere gegenwärtige Zivilisation und Kultur, ergibt sich daraus eine entsprechende Erkenntnis. Unsere sozialen Strukturen fußen auf Zusammenhängen, die weit in die Geschichte zurück reichen. In Europa umspannt dieses kulturelle Werden Jahrtausende. Das Bewusstsein der Menschen hat sich seit dem Römischen Reich entscheidend gewandelt. Der Wert eines Menschen wurde damals seiner Herkunft nach bestimmt, das Geburtsrecht eines römischen Bürgers galt als Garantie für seine persönlichen Rechte. Menschen aus im unterlegenen Völkern wurden als Sklaven gehandelt und verkauft wie Tiere, selbst wenn es sich dabei zum Beispiel um kulturell viel höherstehende, umfassend gebildete Griechen handelte. Dem Rechtsverständnis der römischen Kultur entsprechend bildeten sich Begriffe wie Eigentum, Besitz und Erbe heraus. Bis auf den heutigen Tag werden die sozialen Verhältnisse in unserer Kultur auf der Basis des Römischen Rechtes vertraglich geregelt. Was sich aber ganz extrem geändert hat, ist die Ansicht vom Wert des Individuums. Jeder Mensch hat heutzutage das Recht auf die Achtung seiner Würde.

Die Veredelung der überlieferten Verhältnisse durch das «Einpflanzen eines neuen Triebes» in das bestehende Rechtssystem erfolgt heute vom Einzelnen aus. Das Gewaltmonopol des Staates darf nur mehr notstandsweise als Kriterium gelten um etwas, das durch einen einzelnen Menschen als das moralisch Richtige erkannt worden ist, in seiner Verwirklichung zu behindern. Es gibt einen Kinderreim, der die Rangordnung der sozialen Stände in einem mittelalterlichen Staat aufzählt. Da heißt es «Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann…» Bezieht man sich heutzutage darauf, so fällt auf, dass es in einer Demokratie wie Österreich keinen Kaiser, keinen König und auch keinen Edelmann mehr gibt. Der neue «erste» Rang fällt nun dem Bürger zu. Von diesem bürgerlichen Status aus kann eine neue Veredelung errungen werden. Allerdings geschieht dies nicht im Rahmen eines Geburtsrechtes, sondern der moralischen Kraft entsprechend, die man in sich selbst verwirklicht. Eigentlich muss man von dem «Edelmenschen» reden, der sich mitten im Leben stehend zu einem solchen neuen Rang erhebt. Ein solcher Mensch ist dann eben nicht mehr von der sozialen Herkunft, sondern von seiner individuell gewollten Zukunft her bestimmt. Die Erhebung in den Stand eines «Edlen» kann mit dem Phänomen der Verehrung in direkte Verbindung gebracht werden. Es sind Menschen, die selbst unter dem Druck und den Zwängen unseres gegenwärtigen Zusammenlebens die Kraft beleben, etwas Höheres in sich und in den Mitmenschen zu verehren. Sie streben mit ganzem Herzen etwas an, das sie als ein menschheitliches Ideal empfinden. Darin gerade liegt ihr neuer Adelsstand durch Edelmut.

Mikroversum der Bewusstseinsseele

Ganz aktuell mehren sich Befürchtungen um den Verlust unseres gewonnenen Lebensstandards. Der derzeitige Wohlstand beruht auf den Errungenschaften vieler Generationen, die durch bahnbrechende Erfindungen und die Verdichtung von technischer und sozialer Genialität ein Leben möglich gemacht haben, das frei von Belastungen im Hinblick auf Grundbedürfnisse stattfinden kann. Wir sind nicht mehr genötigt, uns jeden Tag über die Deckung unserer grundlegenden Bedürfnisse Gedanken zu machen. Essen, Trinken, Wohnen, Wärme, Informationen, Freizeit…, all dieses strömt aus unseren sozialen Verhältnissen allen Menschen gleichermaßen zu. Dieser Wohlstand scheint nun an seine Grenzen gekommen zu sein und mehr noch, er scheint merklich zu schwinden. Denn dieser Wohlstand ist zum großen Teil auf Schulden wie auf Sand gebaut. Bei weitem nicht alles, was wir so selbstverständlich entgegennehmen, wird durch eine entsprechende Gegenleistung den Menschen zurückgegeben, die unsere Bedürfnisse weltweit stillen. Die technischen Errungenschaften im digitalen und kommunikativen Bereich haben mittlerweile ein Niveau erreicht, das den Zusammenschluss aller verfügbaren Kräfte zu einem erreichbaren Ziel gemacht hat. Dieses Ziel besteht in der Erlangung eines umfassenden Gesamtbewusstseins, das auf Elektrizität beruht. Die Zusammenführung aller bisher nur individuell verfügbaren Bewusstseinsinhalte wird besonders durch die Nutzung der sozialen Medien begünstigt. Elektrischer Strom ist bekanntlich schnell wie Licht und kann Gegenwärtigkeit auf der gesamten Oberfläche der Erde herstellen. Damit geht auch die Möglichkeit von Steuerung einher. Wer als erster den Überblick über den Bewusstseinsstand der Menschheit erlangt, kann entscheiden, wie die Entwicklung weitergeht. Diese Entscheidung betrifft dann die Bestimmung der Inhalte, mit denen sich die einzelnen Menschen durch die Teilhabe an den Massenmedien ihr Bewusstsein füllen. Der Zusammenschluss der wenigen wertvollsten Unternehmen auf unserer Erde scheint diese Herrschaft über das Gesamtbewusstsein immer stärker anzustreben. Das von Rudolf Steiner bezeichnete aktuelle Zeitalter der Bewusstseinsseele hingegen besteht darin, dass jeder Mensch zu jeder Zeit die volle Verantwortung dafür übernimmt, welche Inhalte er in sein Bewusstsein aufnimmt. Wer sich zu diesem Wächteramt nicht durch Steigerung seiner Kraft zur Konzentration und Meditation rechtzeitig ertüchtigt, wird im Strom der technisch-medialen Entwicklung einfach mit den für alle Nachrichtenhungrigen vorgegebenen Inhalten geflutet. Der passende Schlüssel zu der Schatzkammer unseres Bewusstseins ist aber nicht primär ein Anschluss an das Internet, sondern die so ganz unscheinbare, fast scheue Kraft der Achtung, Bewunderung und Verehrung. Rudolf Steiner vergleicht sie mit einer Sonne, die alle lebendigen Wesen belebt. So wie diese äußere Sonne auf die Erde wirkt, soll die Kraft der Verehrung alle Empfindungen der Seele beleben und durchleuchten. Mit der Belebung dieser Seelenfähigkeit geht auch die allmähliche Verwandlung des ganzen Menschen einher. Er nimmt sich immer mehr als lebendiges Glied einer geistigen Welt wahr und beginnt, den höheren, geistigen Menschen in sich selbst zu erleben.

Ein Wochenspruch Rudolf Steiners im September bringt diese immerwährende seelische Tätigkeit zum Ausdruck. Die Entwicklung der Bewusstseinsseele beruht auf dem Vorgang einer inneren Selbstermächtigung. Alles unbewusste, passiv aufgenommene Seelensein wird darin als Finsternis erlebt und im Vollzug der Einbindung in die Bewusstseinsseele zur Willensfrucht veredelt.

«Sich selbst erschaffend stets

wird Seelensein sich selbst gewahr.

Der Weltengeist, er strebet fort

in Selbsterkenntnis neu belebt

und schafft aus Seelenfinsternis

des Selbstsinns Willensfrucht.»

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