Die Seidenstraße und Europa

Text: Reinhard Apel, Wien

Das Projekt „Neue Seidenstraße“ würde Europa erstmals über Land in großem Stil mit dem Fernen Osten verbinden. Verknüpft man die Idee der Dreigliederung des Sozialen Organismus mit der Neubelebung der Landroute nach Fernost, so kommt man zur Veredelung des heute noch recht rohen Wirtschaftslebens.

Teil 1:  Von der Vergangenheit bis ins Heute

Die alte Seidenstraße

Dunkel ist es schon am Wasserloch in der Nähe von Samarkand. Der noch vor der Metropole gelegene Ort, wird mehr und mehr von den Schatten der Nacht eingehüllt. Das große Feuer brennt und Mensch und Tier suchen dort Wärme und Gesellschaft. Erste Lieder werden angestimmt, ein orientalisches Saiteninstrument klagt fremdartige Töne in die Nacht. Da hört man auf einmal Huftritte im aufkommenden Abendnebel. Einige Menschen am Feuer greifen zur Waffe. Schließlich tritt das erste Kamel in den Feuerschein, gefolgt von einer kleinen Karawane, etwas verstaubt aber reich bepackt. Die Waffen dienen daher nur der Begrüßung und es entwickelt sich eine morgenländische Szene in all ihrer Farbigkeit. Neue Geschichten sind zu erwarten, und wer Glück hat, kann frische Seidenstoffe und andere Kostbarkeiten aus fernen Landen ertauschen.     

Marco und seine Leute sind schon etwa ein Jahr unterwegs. Sie wissen nicht, dass sie über die Mitte ihrer unfassbar langen Reise hinausgekommen sind. Während Marco gerne an der frohen Stimmung am Feuer teilnimmt, erkundigen sich er und seine Gruppe aus Venedig nach dem Weg und den Gefahren bis zum nächsten Halteplatz im Osten. Ein bisschen wundert sich Marco schon darüber, dass einfach niemand wissen will, wie es danach weitergeht. Der Wunsch der Gruppe um die Polos aus Italien, immer weiter und weiter nach Osten vorzustoßen, gilt als seltsam. Ist es nicht besser alsbald wieder bei der Familie zu sein?

Niemals war die alte Seidenstraße eine Welthandelsstraße, so wie wir das heute meinen. Sie war aus der Perspektive des dazumal aktiven Händlers eine Wegstrecke vom Handelsplatz westlich zu einem Ort im Osten, wo er wiederum seine Waren tauschte.  Wir haben es also mit einer Kette von Handelsabschnitten zu tun, die aneinandergereiht und ins kartographische Erfassen der Neuzeit übersetzt wir heutzutage “Die Alte Seidenstraße” nennen. Im Bewusstsein früherer Zeiten gab es sie eigentlich nicht. Wie kann man nur begreifen, dass absolut niemand vor dem unglaublichen Marco Polo sich aufmachte, die ganze Route zu erfahren? In unsere Ära ruhten und rasteten wir nicht, wäre irgendein Stück des Mondes unseres Magens oder der Antarktis unerforscht. Der transkontinentale Handelsweg auf der alten Seidenroute wurde noch im 13. Jahrhundert nicht wirklich erkannt, die Europäer versuchten nicht, sich dort festzusetzen. Die Alte Seidenstraße war, ganz wie in dieser Hinsicht auch die Neue Seidenstraße gedacht ist, ein weitverzweigtes Netzwerk von Wegen mit vielen Abzweigungen und niemals eine einzige physische Straße. Seide, Lacke und Porzellan kamen nach Europa, Gold, Edelsteine und Glas wurden in die andere Richtung gehandelt, mit bescheidenem Handelsvolumen natürlich.

Die Entdeckungsfahrten als Bewusstseinsumschwung

Es nahte etwa 200 Jahre nach Polo die Zeit der Entdeckungsfahrten, um “Indien” zu erreichen. Man erinnerte sich zwar an Signore Polo und seine Berichte. Doch fungierte da bereits der Islam als Barriere zu Land und so strebten die Portugiesen per Schiff nach “Indien” oder “China”. Das waren unscharfe Namen für etwas Wichtiges im Osten. Der kühne Vasco da Gama fuhr dann als erster in Gegenden, in denen sich erschreckender Weise die fixen Sterne änderten und unbekannte Zeichen am Himmel auftauchten.

Wir sind seit etwa 1500 in der Epoche der Neuzeit. Da machen sich in der Menschenseele Impulse geltend, die vorher einfach nicht da waren. Der moderne Forschergeist erwacht und verlangt nach seinem Recht. Wäre Vasco da Gama aus irgendeiner Laune des Lebens heraus im ausgehenden Mittelalter nach Indien gesegelt, so hätte daraus wohl kein Seehandel mit Indien entstehen können.  Kein Schiff wäre zur Überprüfung nachgesegelt. Um 1500 n.Chr. ändert sich die Seelenhaltung mit einem Mal. Jetzt strebt man unbedingt nach internationalem Handel und es erwacht der Sinn für wirtschaftliches Tun.

Das Wirtschaftsleben wird bald der dominante Faktor der Neuzeit. Dies ist eine Aktivität, welche sich in Produktion, Konsumtion und Vertrieb darstellt. Wer kein eigentliches Wirtschaftsleben kennt, wie die Aborigines, wird dann einfach an den Rand gedrängt. Es liegt ja keine Produktion vor und es entstehen keine tauschbaren Werte. In den Bereich der Wirtschaft gehörten zudem kooperative Vorgehensweisen eingearbeitet. Wird weiters das Wirtschaftsleben nicht geschieden von Geist und Recht, so wird es sich zu deren Tyrann aufwerfen. Dass es in früheren Zeiten kein Wirtschaftsleben im heutigen Sinne gab, erkennt man an der zu geringen Bedeutung des Handels.

Gegenwart

Heute im Jahre 2022 sind es fast nur mehr ökonomische Fragen und die Dynamiken des Welthandels, die das Geschehen bestimmen. Wer glaubt, es ginge momentan in der Ukraine um zwei rivalisierende Herrscher, übersieht die eigentlich wirkenden Triebkräfte. Im Hintergrund des Konflikts stehen geostrategische wirtschaftliche Interessen. Sie treten aber nur so verheerend auf, weil staatliche und wirtschaftliche Dynamiken nicht voneinander getrennt sind. Auf Basis der Sozialen Dreigliederung sollten jedenfalls die Wirtschaftsbeziehungen möglichst normal weiterlaufen, selbst wenn Krieg herrscht zwischen Staaten. Das ginge leichter, wäre die Wirtschaft nicht an den Staat gekoppelt. Was für ein Topfen dabei herauskommt, wenn man durch Sanktionen die wirtschaftlichen Beziehungen als politische Waffe einsetzt, erleben wir gerade. Sei willkommen Inflation! Die momentanen Erfolge der ukrainischen Armee sind dem Coaching durch den Westen zu verdanken und keineswegs die Wirkung von Sanktionen.

Der Ukraine Konflikt und seine weltwirtschaftlichen Hintergründe

Welche weltwirtschaftlichen Fragen leben sich nun im Ukraine Konflikt auf unedle Art aus?

Einmal ist da die in Washington nicht geliebte Idee, dass insbesondere Deutschland und Russland ohne solche Waffengänge zu einer dauerhaften und positiven Kooperation finden könnten. Eine Vorstellung, die Rudolf Steiner als für den friedlichen Menschheitsfortschritt ungeheuer wichtig angesehen hat, gerade weil dies die Hegemonie englischsprachiger Länder relativiert, ohne einen neuen Hegemon zu erzeugen. Ist es denn für Europa wirklich so großartig, wenn die North Stream Pipelines brachliegen und alle Beziehungsfäden nach Russland als teuflisch gelten?

Andererseits gibt es das Ringen zwischen den USA und China um das Projekt “Neue Seidenstraße”. Der Westen hat die Neigung den Seeweg nach Fernost als Haupthandelsweg zu erhalten. Was bedeutet das für Europa? Könnte sich vielleicht die Landroute besser stabilisieren, wenn sie im Sinne des Assoziativen Wirtschaftens ausgestaltet wird? Über all dies mehr im nächsten Heft.

Permalink