Einblicke in das Wesen der Kunst am Beispiel der Meistersinger von Nürnberg

Text: Norbert Liszt

Die Handlung der Meistersinger von Nürnberg von Richard Wagner spielt zu Johanni. Johanni ist eine Übergangszeit. Die Sonne hat ihren höchsten Stand erreicht und beginnt wieder abzusteigen. Das nach außen strebende, raumgreifende Wachstum der Pflanzenwelt hat seinen Höhepunkt überschritten. Die Fruchtbildung ist jetzt das vorrangige Geschehen. Die Früchte schließen sich mit ihrer Schale von der Außenwelt ab. Die Innenbildung wird wichtig und im Inneren der Früchte bilden sich die Keime für das neue Leben.

Die Zeit der Meistersinger war auch eine Übergangszeit. Es ist der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, was gleichzeitig auch der Übergang ist vom Verstandes- und Gemütsseelenzeitalter zum Bewusstseinsseelenzeitalter. Im Mittelalter ist der Mensch in einem gewissen Sinne noch außer sich. Im Bewusstseinsseelenzeitalter wird unser Innenleben wichtig. Wir sollen lernen mit freien Willenskräften, uns selbst und die Welt zu ergreifen und zu gestalten.

Wie die Früchte grenzt sich auch der Mensch nach außen ab und bildet eine Art Schale, innerhalb derer eine Innenwelt entsteht, die in der Lage ist, Keime für die Zukunft zu bilden. Was durch die Schale hindurchdringen darf, von außen nach innen und umgekehrt, darüber soll das Menscheninnere entscheiden. Diese innere Aktivität kann zur Kunst gesteigert werden.

Die Meistersinger haben es zu einer gewissen Größe ihrer Kunst gebracht. Es stellt sich nun die Frage, ob die Meistersingerkunst auch erneuerungsfähig ist. Ist sie fähig, Keime für die Zukunft zu entwickeln oder erstarrt sie in ihrem Regelwerk? Der Meistergesang war sehr strengen Regeln unterworfen. Darüber wachte der „Merker“. Wollte jemand Meistersinger werden, musste er diese Regeln befolgen. Eine gewisse Anzahl von Verstößen gegen diese Regeln galt als „versungen“.

Es gibt einen Sängerwettbewerb zu Johanni. Der Sieger erhält als Preis Eva, die Tochter des Meistersingers und Goldschmieds Veit Pogner, zur Braut, und der muss ein Meistersinger sein. Eva ist Sinnbild für die sich der Kunst hingebenden Seele. Sie wird aber nicht zu ihrem Glück gezwungen, darf zustimmen oder ablehnen und auch das Volk darf mitentscheiden. Es gibt zwei Konkurrenten, Sixtus Beckmesser und Walther von Stolzing. Der Letztere ist ein „Artfremder“. Er ist kein Handwerker, sondern ein Ritter.

Eva ist das Wesen, das alle drei Männer – Beckmesser, Sachs und Stolzing – begehren. Ihr Vater ist Goldschmied. Sie ist also ein Goldkind, ein Sonnenkind. Die Sonne ist das die Erde Befruchtende. Eva ist Bild für das Nährende, das von der Sonnenbefruchtung lebt.

Walther von Stolzing: Der Name sagt schon einiges aus über sein Wesen. Er ist der Waltende, der Willens-, der Tatmensch. Sein Wille ist zunächst noch recht ungehobelt. Er ist ein Stürmer und Dränger. Aus der Dunkelheit seines Willensdranges strebt er nach Erneuerung. Von den Meistersingerregeln möchte er nichts wissen. Doch, will er Eva gewinnen, muss er sie lernen. Als immer Bewegter, Strebender sucht er den Gegensatz, Eva, die Empfindende, In-Sich-Ruhende, die den Geist empfangende und nährende Seele. Der Ritterstand, dem Walther angehört, wird zur Zeit der Meistersinger immer bedeutungsloser. Der alte Adel wurde ihm vererbt, den neuen Adel muss er sich selbst erarbeiten. Er soll sein eigenes Werk sein. Walther soll Werkerzeuger werden, tritt deshalb in den Kreis der Handwerker und findet seinen Lehrer in Hans Sachs, dem Schuster. Der fühlt sich verpflichtet, dessen Willensdrang zu kultivieren und ihm Bodenhaftung zu geben.

Sixtus Beckmesser, eine Karikatur des Gedankenhaften, ist Merker und Stadtschreiber und als solcher durchaus geschätzt. Sein Beruf ist das Bewahren und Festhalten, die Orientierung an festgeschriebenen Geboten. Erstarrt in seinen Gedankenformen scheut er das unbekannte Neue und ist bestrebt das Regelwerk des Meistergesangs aufrechtzuerhalten. Regeln geben Halt und Orientierung. Beckmesser, der nicht genügend Mut und moralische Fantasie hat, um sich selbst Regeln zu geben, sehnt sich nach äußeren Stützen. Er hat sonst das Gefühl, als würde er den Boden unter den Füßen verlieren. Der nach Freiheit strebende Mensch muss lernen, den Halt in sich selbst zu finden. Beckmessers Gedankenstarrheit und kleinlicher Kritisierlust muss man das Gegenteil gegenüberstellen – das lebendige, produktive Denken, das der inneren Initiative bedarf.

Hans Sachs steht sinnbildlich für Johannes dem Täufer (Kurzform: Hans), der von sich sagte: „Nach mir wird einer kommen, der vor mir war, denn er ist größer als ich. Ich muss abnehmen, er aber muss wachsen!“ Er verzichtet auf die Hand Evas zugunsten von Walther und erkennt, dass in ihm eine wertvolle Erneuerungskraft steckt, die nur kultiviert werden muss. Er wird Lehrer des Walther und bringt ihm die Regeln des Meistergesangs bei, lässt ihm aber noch genügend Raum zur freien Entfaltung. Hans Sachs, der Schuster, ist die Seele des Stücks, der Meister unter den Meistern, sowohl als Schuster als auch als Meistersinger. Er beherrscht die Regeln wie kein anderer, ist aber fähig sie beweglich zu halten und ist offen für Neues. Er ist der heilende Geist des Stücks, findet ein atmendes Verhältnis zu seiner Kunst und ist fähig das Alte in Neues überzuführen. Vor allem aber ist er ein Förderer des selbstbestimmten und aus der Selbstbestimmung heraus Beziehung schaffenden Menschseins. Der kulturelle Wert der Meistersinger gipfelt in der Frage des Walther von Stolzing: „Wie fang ich nach der Regel an?“ und der Antwort des Hans Sachs: „Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann!“ Darin kommt das Ideal-Menschliche zum Ausdruck: Der sich selbst vervollkommnende Mensch. Er gibt sich selbst die Regeln und handelt danach. Wie eine Hebamme hilft Hans Sachs das Geisteskind zur Welt zu bringen, indem er die empfindende, empfangsbereite Seele (Eva) mit dem Erkenntniswillen (Walther von Stolzing) zusammenführt.

In der Meistersingergeschichte erleben wir das Buhlen dreier unterschiedlicher Charaktere um die bräutliche Seele, in der Gestalt Evas. Beckmesser, als Beispiel für das unlebendige abstrakte Denken, findet in Evas Herzen keinen Platz. Dagegen fühlt sie sich zum willensstarken Walther von Stolzing hingezogen. Eva fühlt, dass eine Zeit angebrochen ist, die starke Willenskräfte fordert, um Halt im Leben zu finden. Sie müsste sonst von den Fluten der Eindrücke, Empfindungen und Gefühle getrieben durchs Leben irren.

Die Gestalt des Hans Sachs zeigt uns einen Menschen, der ein tiefes Empfinden für die Not seiner Zeit hat. Aus seiner Lebenserfahrung schöpft er das Wissen über die Wege, die aus dieser Not herausführen können. Seine Kunst besteht darin, dass er ein atmendes Verhältnis zwischen Verstandes- und Willenskräften in seiner Seele hegt und pflegt. Das macht ihn zum berufenen väterlichen Ratgeber, der Walthers Willen zu kultivieren versteht und die Wege bahnt, die Walther Eva zur Braut machen. Mit geschicktem Kalkül erreicht er, dass Walther sein Preislied darbieten kann. Der geadelte Wille gepaart mit fühlendem Verstehen führt zur meisterlichen Kunst.

Wir treffen in diesem Werk auf das Schicksal des gegenwärtigen Menschen. Die göttliche Weisheit kommt nicht mehr an ihn heran. Sie hat ihn verlassen, damit er sich einen freien Willen anerzieht, mit dem er seine Seele zum Auffassungs- und Beziehungsorgan der geistigen Hintergründe des Weltgeschehens auszuformen vermag. Der heutige Mensch hat seine Naturverbundenheit gelöst und stellt sich als selbständiges Wesen der Welt gegenüber. Die Erkenntnisse über die Weisheiten der Welt, die früher als Eingebung von außen an ihn heranwehten, werden verinnerlicht. Durch die Kraft seines Willens kann er die Verstandes- und Gefühlskräfte so ausbilden, dass er verstehend und liebend in die Welt hineinwächst. Dieser Welt des Geistes will er mit klarer Einsicht begegnen und sich innig mit ihr verbinden.

Der Sängerwettbewerb

Der Meistersinger-Wettbewerb beginnt mit der Darbietung Beckmessers. Er versingt, da er sich den von Walther stammenden Entwurf angeeignet hat, von dem er annimmt, dass er von Hans Sachs stammt, den er nicht versteht und ihn deshalb auch nicht interpretieren kann. Diesem geistreichen, lebendigen Werk kann er nicht gerecht werden, da sein Denken die Stütze fester, fertiger Formen braucht.

Schließlich trägt Walther sein Lied vor. Es wird von allen begeistert aufgenommen und alle empfinden an ihm die wahre Kunst. Man fühlt, dass er sich mit dem, was er vorträgt tief verbunden hat. Sein Lied wirkt wie nährende Substanz, ist atmend gestaltet, vom Geist befeuert und wird mit Begeisterung vorgetragen. Er gewinnt den Wettbewerb und damit auch Eva zur Braut.

Nun soll ihm der Meistersingertitel verliehen werden, was er zunächst ablehnt: „Nicht Meister, nein. Will ohne Meister selig sein!“ Darauf folgt der bekannte Schlussgesang von Hans Sachs: „Verachtet mir die Meister nicht und ehrt mir ihre Kunst! …“ Sinngemäß erklärt Hans Sachs: Wenn auch alles andere zugrunde geht, was bleibt ist die Kunst, der menschliche Schöpfertrieb. Aus dem Inneren heraus, ohne äußeren Zwang, Fruchtbares zu schaffen, ist dem Menschen eingeboren. Er kann das hervorbringen, was die Natur uns nicht bieten kann. Der individuellen Erscheinung kann er den Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit einprägen. Es kann sein, dass dieser edle Trieb von anderen Seelenregungen verdrängt wird, austilgen lässt er sich nicht, denn er ist ein Ur-Trieb des Menschseins.

Schließlich ist Walther bereit, sich zum Meistersinger küren zu lassen.

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