Friede und Freiheit

Text und Bild: Wilhelm Grass, Wien

Viele Menschen träumen vom Frieden, vielleicht sogar alle.

Was ist denn die tiefere Ursache, dass wir diesen Zustand nicht ein für allemal herstellen können?

Es muss wohl mit der Entwicklung der Menschheit bzw. des Menschen zusammenhängen. Ein tief inneres Bedürfnis des Menschen ist es, seit dem Beginn der Entwicklung der Bewusstseinsseele, seinem Drang nach Freiheit immer konsequenter nachzugehen. Jemand sagte mir einmal, das Einzige, was der Mensch nicht kann, ist nicht frei werden zu wollen.

Wie lässt sich das nun mit den gesellschaftlichen Verpflichtungen innerhalb eines Staates verwirklichen? Woodrow Wilson legte dem amerikanischen Kongress am 8. Januar 1918 sein 14-Punkte Programm vor, das einen für alle Parteien annehmbaren Friedensschluss vorsah und auf dem „Selbstbestimmungsrecht“ der Völker aufbaute. Spontan könnte man sagen, eine gute Sache!

Bei näherem Hinsehen kann man aber gerade darin den tieferen Grund für das Nichtvorhandensein des Friedens finden. Dadurch wird die Bedeutung einer Nation, eines Staates unzeitgemäß aufgewertet. Das Gegenteil soll sein, das Gruppenbewusstsein soll dem Selbstbewusstsein des einzelnen Menschen weichen. Wir leben in einer Zeit, in der der Staat nur eine dienende Rolle spielen sollte, nämlich die Freiheit des Einzelnen zu ermöglichen.

Der Nationalismus ist die Folge dieser Fehlentwicklung, die sich auch nach innen wendet und anders Denkende und ethnische Minderheiten verfolgt und unterdrückt. Der Staat wird zu etwas gemacht, das es eigentlich gar nicht mehr geben kann. Er wird zu einem Scheingebilde, das es zu verteidigen und nach Möglichkeit auch zu vergrößern gilt.

Dem hat sich der Einzelne zu unterwerfen und seine Freiheit bleibt auf der Strecke.

Ein Freund fragte mich einmal, was denn die Italiener davon haben, dass Ihnen 1919 Südtirol, interessanter Weise entgegen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, zugesprochen wurde. Können sie, so sagte er, deshalb mehr Spagetti essen und mehr guten Wein trinken? Natürlich nicht, lediglich der Nationalstolz wird aufgewertet, der aber im Zeitalter der Bewusstseinsseele immer mehr abgebaut werden soll. Das spricht sich jetzt nicht gegen Heimatliebe aus, die hat damit eigentlich nichts zu tun, die kann und soll weiter gepflegt werden, hat aber mit den Staatsgrenzen nichts zu tun. Ich, als geborener Nord-Tiroler, fühle mich in Südtirol wie zuhause, aber auch in Italien und manch anderen Ländern. Die Europäische Union ist eigentlich eine Karikatur dieser allgemein menschlichen Heimatliebe, sie fördert einen Nationalismus größerer Art, ihr stehen nämlich andere Machtblöcke gegenüber.

Dabei möchte doch der nach Freiheit strebende Mensch immer mehr sich überall auf der Erde zuhause fühlen.

Valeri Klitschko, Bürgermeister von Kiew, antwortete den deutschen Intellektuellen, als sie sich gegen Waffenlieferungen aussprachen und Friedensverhandlungen als das einzig Sinnvolle nahelegten, er will keinen Frieden sondern Freiheit. Eigentlich sehr tiefsinnig, es gibt nämlich keinen Frieden ohne Freiheit, aber Klitschko meinte die Freiheit des Volkes und nicht der einzelnen Menschen. Die Freiheit eines Volkes oder Staates gibt es eigentlich gar nicht bzw. hat es nie gegeben und kann daher auch nicht errungen werden.

Hingegen die Freiheit der einzelnen Menschen kann immer mehr Realität werden, wenn sie von der Seite der Dreigliederung des sozialen Organismus begriffen wird. Wie wir von Rudolf Steiner wissen, gibt es nur ein Gebiet, auf dem der Mensch wirklich frei sein kann und das ist das Geistesleben. Daher ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das zu Krieg führen muss, vom Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen abzulösen.

Für das Rechtsleben, das auf Gleichheit oder Demokratie und nicht auf Freiheit basiert, können die alten Staatsgrenzen beibehalten werden. Die Besonderheiten wie die Einzigartigkeit der Menschen und der Landschaften können dadurch am besten befriedet werden.

Für das Wirtschaftsleben, das auf Brüderlichkeit und nicht auf Freiheit beruht und im Unterschied zum Geistesleben in opportuner Weise für alle Menschen einzurichten ist, sind die alten Staatsgrenzen bedeutungslos. Der Nationalismus wird dadurch überwunden und seine Sinnlosigkeit aufgezeigt. Assoziationen verbinden sich mit Assoziationen über die ganze Welt.

„Die ganze Erde als Wirtschaftsorganismus gedacht, ist der soziale Organismus.“ (GA 340, NÖK, 1. Vortrag).

Der freie Mensch führt keine Kriege, weil er seine Sinnlosigkeit erkennt, der Unfreie schon.

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