Goethes Suche nach der Wahrheit in den Erscheinungen der Natur

Text und Bild: Norbert Liszt, Wien

Goethe, dessen literarische Werke von vielen geliebt und als besonders angesehen werden, wird als Naturwissenschaftler bis heute wenig geschätzt. Dem Dichter und Universalisten Goethe traut man nicht zu, auch in der Wissenschaft Großes hervorzubringen. Man meint, in wissenschaftlichen Belangen sind Spezialisten gefragt.

Was aber macht die naturwissenschaftlichen Werke Goethes so besonders?

Es ist die Künstlernatur in ihm, die sich mit einer besonderen Empfindungsfähigkeit den Naturdingen zuwendet. Anscheinend hatte er die Fähigkeit, die einzelnen Gegenstände und Wesenheiten so anzuschauen, dass er sich dabei mit seinen Urteilen so lange zurückhielt, bis sich die Phänomene in ihm aussprachen. Dabei behütete er die Anschauung davor, mit unreifen Gedanken verdorben zu werden. Er wollte den Phänomenen in all ihren Veränderungen so lange nachspüren, bis sie ihm ihr Wesen offenbarten. Exemplarisch hierfür sind folgende goethesche Zitate:

Das Höchste wäre zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.

Bei Betrachtungen der Natur im Großen wie im Kleinen habe ich unausgesetzt die Frage gestellt: Ist es der Gegenstand oder bist du es, der sich hier ausspricht?

Er versuchte der Natur ihre geheimen Schöpfungs-Gesetze abzulauschen, um schließlich in sich selbst Gedanken und Empfindungen aufleben zu lassen, die Schöpferpotential in sich tragen. In Goethe zeigt sich der wahre Künstler. Es war ihm ein Herzensbedürfnis, das Sinnlich-Wirkliche in geistige Sphären zu heben. Der Dichter Goethe hatte die Gabe, seine Forschungsresultate so bildhaft anschaulich zu beschreiben, dass es jedem möglich ist, die Wege seiner Studien nachzuvollziehen. Dabei bleibt er beim Wahrnehmungserlebnis und versucht nicht, die Phänomene durch etwas Unwahrnehmbares zu erklären. Das ist in seiner Farbenlehre sehr gut nachvollziehbar. Seine Beschreibungen laden uns ein, seine Versuche nachzumachen, was für das Verstehen seiner Forschungsergebnisse sehr von Nutzen ist. Sie bieten den Menschen keine fertigen Gedankenhappen dar, die sie unhinterfragt schlucken mögen, sondern wenden sich an den unbefangenen Wahrheitssucher. Beschreibung und Praxis (Versuch) ermöglichen ein intensiveres Erfassen der Faktenlage.

Sein künstlerischer Geist blickte auf die Welt mit der Erfahrung, dass alles in dieser Welt in einem großen Zusammenhang steht. Die mannigfaltige Welt ist in letzter Konsequenz ein einheitlicher Kosmos. Das Einzelne ist nur zu verstehen, wenn es in Wechselbeziehung mit anderen Elementen betrachtet werden kann und mit diesen ein größeres Ganzes bildet. In seinem Epirrhema bringt er diese Erfahrungen in schönen Worten zum Ausdruck.

Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
Denn was innen das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.

Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles:
Kein Lebendiges ist ein Eins,
Immer ist’s ein Vieles.

In der Abhandlung „Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt“ geht Goethe vom einfachen Erleben beim Wahrnehmen der Umgebung aus. Gewöhnlich betrachten die Menschen die Gegenstände in Bezug auf sich selbst, ob sie ihm gefallen oder missfallen. Hat er aber ein wissenschaftliches Bedürfnis und will er Kenntnis haben über die Dinge der Natur, ohne Anwendung des Gefallens und Missfallens, dann gestaltet sich sein Urteilen schwieriger. Er soll untersuchen was ist und nicht was behagt; wie die Gebilde der Natur an sich sind und in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen. Er soll die Kriterien zur Beurteilung nicht aus sich, sondern aus dem Wesen der Dinge nehmen und die Beobachtungsgabe üben, dass er die Betrachtungen stets erweitert, indem er die Gegenstände untereinander immer besser zu verknüpfen lernt. Dabei wird ihm helfen, darauf zu achten, wie ihn das Leben bei jedem Schritt zurechtweist.

Er soll strenger Beobachter seiner selbst sein und sich vor Selbsttäuschungen hüten, die ihm Erkenntnissicherheit vorgaukeln, wo noch viel Unkenntnis besteht. Das sind strenge Forderungen, die kaum ganz erfüllt werden können. Sie sollen den Wissenschaft-Treibenden aber nicht von seinen Bestrebungen abhalten. Goethe empfiehlt auch genau zu studieren, wodurch vorzügliche Menschen die Wissenschaft zu erweitern gewusst haben. Dabei soll aber nicht vergessen werden, ihre Erkenntnis unvoreingenommen zu betrachten, um einerseits ihre Forschungsstrategien zu ergründen und andererseits die Abwege zu bemerken, die sie zu falschen oder ungenauen Interpretationen geführt haben.

Der Wissenschaftler tut gut daran, seine Forschungswege stets im Austausch mit anderen zu gehen. Das können Experten, aber auch Menschen sein, die im Stande sind unvoreingenommen, mit gesunden Hausverstand zu urteilen. Sie entdecken möglicherweise Phänomene, die er selbst nicht erkannt oder übersehen hat. Das Interesse mehrerer auf einen Punkt gerichtet – ihre Ansichten, Beihilfen, Kritiken und Widersprüche – werden stets von Vorteil sein.

Der Umgang mit Versuchen und deren gedanklicher Verarbeitung

Wenn man beobachtete Phänomene, seien sie natürlich gegeben oder künstlich hergestellt, wieder darstellen kann, so nennt man das einen Versuch. Sein Wert besteht darin, dass er unter bestimmten Bedingungen jederzeit wieder hervorgebracht und mit anderen Versuchen folgerichtig verknüpft werden kann. Erfahrung und strenge Aufmerksamkeit sind von Nöten, um das hervorgebrachte Phänomen richtig zu beurteilen und es in eine sinnvolle Ordnung einzureihen. Man darf aus Versuchen nicht zu schnell Schlüsse ziehen, denn beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil oder von der Erkenntnis zur Anwendung lauern alle unsere inneren Feinde – Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Starrheit, Vorurteil, Bequemlichkeit, Leichtsinn … Der Mensch neigt dazu sich mehr an der Vorstellung, die in seine Sinnesart passt, zu erfreuen als an der Sache. Daher auch die Vorliebe für Hypothesen, Theorien, und Systemen, die man gerne bestätigt haben will. Diese Vorliebe verleitet manche Menschen, unausgereifte Versuchsanordnungen mit klugen Argumenten zu einer blendenden, glaubhaften Theorie zusammenzustellen. So Mancher verliebt sich in seine eigene Hypothese und konstruiert einen Theorienkomplex, mit dessen Argumenten er seine Hypothese als unumstößliche Wahrheit verkauft.

Will man sich der Verführung entziehen, von einer solchen Theorie in die Irre geführt zu werden, kann es helfen, von den Mathematikern zu lernen. Der Mathematik ist das Gebot immanent, folgerichtig vorzugehen, man muss das Nächste aus dem Nächsten folgen lassen. Will man in der Mathematik zu einem richtigen Ergebnis kommen, kann man es sich nicht leisten einen Schritt in der Folge auszulassen. Schafft man es auch im naturwissenschaftlichen Prozess so bedächtig und geordnet vorzugehen, wie es in der Mathematik unumgänglich ist, und können die einzelnen Schritte klar und deutlich beschrieben werden, dann können sie von jedem untersucht und geprüft werden.

Das Uhrphänomen

Goethes geniale, bedächtige und empfindsame wissenschaftliche Verfahrensweise, kann auch für die Wissenschaft unserer Zeit beispielhaft sein. Seine Forschungswege führen zur Erkenntnis eines Grund- oder Urphänomens. Die Dinge und Verhältnisse, denen wir begegnen, sind zumeist vielfältig bedingt. Es gibt fernere und nähere Bedingungen und Beziehungen, die sie entstehen lassen. Einige sind unbedingt notwendig für deren Entstehen, andere schließen sich den notwendigen Bedingungen an und verändern sie. Die notwendigen Bedingungen sind die ursprünglichen. Goethe nennt sie Urphänomene. Die ferneren, werden abgeleitete Phänomene genannt.

Wie die Sonne ihre Strahlen in alle Richtungen aussendet, können vom Grundphänomen aus alle Folgeerscheinungen eingesehen werden.

Goethe hat seinen wissenschaftlichen Weg zu einer Kunst gemacht, die das Gewahrwerden der objektiven Welt im menschlichen Geist ermöglicht. Denn „Der Mensch mit seiner gesamten Entwickelung ist nicht um seiner selbst willen da, er ist da zur Offenbarung des Geistes, der ganzen Welt des Göttlich-Geistigen, er ist eine Offenbarung der Weltengottheit, des Weltengeistes. der Weltengeist hat in uns die Kraft gelegt, wissend zu werden; und wenn wir nicht erkennend werden wollen, so lehnen wir es ab – was wir eigentlich nicht dürften -, eine Offenbarung des Weltengeistes zu sein, und stellen immer mehr und mehr nicht eine Offenbarung des Weltengeistes dar, sondern eine Karikatur, ein Zerrbild von ihm. Es ist unsere Pflicht, nach Erkenntnis zu streben, um immer mehr und mehr ein Bild des Weltengeistes zu werden.“ (Rudolf Steiner, Okkulte Physiologie, GA 128)

Der Mensch, der sich aus dem Naturzusammenhang herausgesondert hat, um ein höheres Bewusstsein zu entwickeln, vereint sich wieder mit der von jeher zu ihm gehörigen Welt. Dieses höhere Sein trägt die Menschheit als Ursinn ihres Wesens von Anfang an in sich. Ihm ist die Erkenntnisfähigkeit immanent, die es dem einzelnen Menschen ermöglicht, aus Freiheit zu handeln und zu schaffen.

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