Hüter der Wahrheit

Text: Wolfgang Shaffer

Jede Wahrheit muss sorgsam bis zu ihrer rechten Zeit gehütet werden und darf danach nicht weiter in Verborgenheit gehalten werden.

Wahrheit erinnern

Es gibt offensichtlich zwei Möglichkeiten, das «Wahre» zu behüten. Die gebräuchliche erste Art besteht darin, ein Ereignis wahrnehmbar für alle Welt zu bezeugen. Das kann mündlich geschehen durch eine Erzählung, schriftlich durch einen Bericht, vor Gericht durch eine Zeugenaussage oder auch durch all die technischen Mittel, die zu einer objektiven Dokumentation der Wahrheit eines Sachverhaltes herangezogen werden. Das unmittelbare Erleben einer gegenwärtigen Situation wird so in die permanente, allgemein verfügbare Erinnerung umgeformt. Die Wahrheit wird durch diesen Vorgang in den Zusammenhang von Stoffen «eingekleidet», die eine gewisse materielle Beständigkeit im Lauf der Zeit gewährleisten können. Ist dieser Vorgang einmal abgeschlossen, so gilt die Wahrheit als gesichert und wird gewöhnlich auch nicht mehr hinterfragt. Das Behüten von Wahrheit erfolgt nun durch die jeweils aktuelle Wahrnehmung der archivierten Unterlagen. Dieser Weg umschließt ganz konkrete Ereignisse einer Biographie, Chroniken und Archive aller Art und Größenordnung bis hin zur Dokumentation der menschlichen Kulturgeschichte, der Darstellung belegbarer Phasen der Erdentwicklung und den Ergebnissen moderner astronomischer Forschung zur Erschließung der Entstehung des materiellen Weltalls.

Die zweite Art das Wahre zu behüten, besteht gerade umgekehrt darin, es soweit als möglich geheim zu halten. Wer zum Beispiel ein ungewöhnliches Ereignis ganz für sich alleine und ohne jede weitere menschliche Zeugenschaft durchlebt, kann sich die Gewissheit dieser Erfahrungen unter Umständen nur durch das Schweigen nach außen hin bewahren. Die erlebte Wahrheit würde völlig ungeschützt der Allgemeinheit preisgegeben wahrscheinlich auf Unglauben stoßen, Verwirrung stiften oder gar der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Nur im streng begrenzten Rahmen eng vertrauter Menschen können solche Wahrheiten ungefährdet weitergegeben werden. Das gemeinsame Behüten solcher Tatsachen erfolgt dann vielleicht sogar über Jahrhunderte hinweg nur durch den Austausch von Mund zu Ohr und die Sicherung des Erfahrungsinhaltes beruht einzig und allein auf den Kräften der menschlichen Erinnerung. Beide Wege dienen dem Behüten von Wahrheit über die einzelne Person hinaus.

Geheimes erschließen

Auf dem von Rudolf Steiner mitgeteilten Schulungsweg gibt es zur Bewahrung ganz bestimmter Wahrheiten den Hinweis auf die Existenz eines sogenannten «Hüters der Schwelle». Dieser tritt in Form einer Wesenheit auf, die den Menschen davor schützt, ohne entsprechende Vorbereitung in die Welt einzutreten, die ihm normalerweise erst nach seinem physischen Tod angemessen ist. Der Hüter gibt aber einer auf dem Schulungsweg geübten Seele bereits vor dieser Zeit die ernste Wahrheit preis, wie weit er selbst von seinem Urbild der Liebe als Erdenmensch noch entfernt ist. Die Wahrheit seiner eigenen Person wird ihm so als Schreckgestalt vor sein inneres Auge gestellt. Mut und Furchtlosigkeit sind an dieser Stelle unabdingbar nötig, um bei der Begegnung mit diesem bisher unsichtbaren Doppelgänger nicht ganz den Halt zu verlieren. Der Ausdruck Doppelgänger deutet darauf hin, wie eng diese Wesenheit trotz seiner äußersten Befremdlichkeit mit uns verbunden ist.

Wer dieser Begegnung standhalten kann, dem lichtet sich die absolute Finsternis jenseits der Schwelle, an der er steht zu dem Einblick in die Seelenwelt und in das Geisterland. Über die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle hinaus gilt im Rahmen der Geisterwissenschaft der Ausdruck des «geheimen» Wissens nur in dem Sinne, wie von irgendeiner Geheimschrift gesprochen werden muss, bevor dem sehenden Auge die Bedeutung der einzelnen Schriftzeichen bekannt geworden sind. Der Geheimnisgrad dieser höheren Wahrheiten ist nicht in den Tatsachen selbst begründet, sondern er wird von der individuellen Fähigkeit bestimmt, diese geistigen Tatsachen wahrzunehmen und in einen entsprechend sinnvollen Zusammenhang zu bringen.

Die Mehrheit entscheidet

Das Behüten der Wahrheit im Rahmen der sinnlich wahrnehmbaren äußeren Welt hat sich in der gegenwärtigen Zivilisation zu einem gewaltigen Gefüge verdichtet, das mit dem Begriff «Wissenschaftliches Weltbild» bezeichnet werden kann. Es umfasst alle Schritte der Produktion, Verwertung und Weitergabe von Wissen auf Grund der Annahme des Paradigmas der physikalischen Kausalität. Dieses Prinzip besagt, dass sich alles erkennbare Geschehen im Weltall auf den Bahnen von Ursache und Wirkung vollzieht. Die Sicherung dieses Weltbildes erfolgt im Rahmen der öffentlichen Strukturen des modernen Rechtsstaates. Wer zum Beispiel im Hinblick auf geschichtlich bedeutsame Ereignisse bestimmte festgestellte Tatsachen leugnet, muss auch mit strafrechtlichen Folgen rechnen. Die tiefste Wahrheit nun, das höchste schützenswerte Gut des Menschen ist die Erkenntnis seines eigenen Wesens. Die Wahrheit dessen, wer ich wirklich bin, lässt sich aber nicht nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung finden. Sie gelangt erst mit dem inneren Werden in wachsender Selbstständigkeit und durch die Begegnungen im weiteren Umkreis der Lebensbiographie zur Entfaltung. Sie umschließt auch Tatsachen, die sich logisch widersprechen zu einer persönlichen, immer reicher werdenden Einheit von Gegensätzen. Die allgemein bekannte und öffentlich gestützte Wahrheit trifft nun bei jedem Einzelmenschen auf ein ganz individuell entwickeltes Selbstbewusstsein. Dadurch entstehen die verschiedensten Haltungen zu den allgemein bekannten Tatsachen. Dieser Vorgang kann als Sozialisation bezeichnet werden. In einer Staatsform mit dem Namen Demokratie ist es ausschlaggebend, wie viele Menschen sich welche Meinung zu einer Fragestellung gebildet haben. Die Mehrheit der gleichlautenden Meinungen entscheidet dann darüber, welche konkreten Schritte zum Beispiel zur Lösung von Problemen unternommen werden. An dieser Stelle tritt ganz akut die Bedeutung dessen hervor, was sich innerhalb der letzten Jahrzehnte als virtuelle Kommunikation in Form von sozialen Medien entwickelt hat. Da es gegenwärtig technisch möglich ist, dass ein einzelner Mensch seine ganz persönliche, möglicherweise revolutionäre Ansicht zu einer Sache mit einem einzigen Tastendruck der gesamten denkenden Menschheit zur Prüfung und Einsicht bereitstellen kann, liegt darin auch ein revolutionärer gesellschaftlicher Aspekt. Das bisher gewordene Weltbild sieht sich damit auch der wachsenden Gefahr einer prinzipiellen und permanenten Hinterfragung ausgesetzt, die in kürzester Zeit eine sehr große Anzahl von Menschen weltweit erfassen könnte. Um die Geschlossenheit der öffentlichen Meinungsbildung in wichtigen Fragen aufrechtzuerhalten, sind die globalen sozialen Medien dazu übergegangen, die Wahrheit zu bestimmten Themen von sich aus festzulegen und die Darstellung davon abweichender Ansichten gar nicht erst zu ermöglichen. Als Kriterium für Wahrheit gilt nur das, was durch die Naturwissenschaft bestätigt wird. Die Medienwelt übernimmt damit eine Machtposition, die im Mittelalter das Oberhaupt der Kirche innehatte. Schon damals galt das Argument, die ungebildeten Menschen vor den falschen Ansichten eines gefährlichen Widersachers schützen zu müssen, um sie sicher auf den guten Weg zu geleiten. Es war zum Beispiel in dieser Zeit verboten zu behaupten, die Erde würde sich im Weltall um die Sonne bewegen. Für die damalige Wissenschaft war das eine ungeheuerliche Behauptung, die es auf das Strengste zu bestrafen galt. In unserer Gegenwart sind die Regierungen längst dazu übergegangen, eigene Ministerien mit dem Schutz der Wahrheit vor falschen Informationen zu beauftragen.

Rätselfrage Mensch

Für die von Rudolf Steiner begründete Geisteswissenschaft gelten noch ganz andere Regeln. Es darf in diesem Zusammenhang erstens keinem Menschen absichtliche eine Wahrheit vorenthalten werden, die seinem Entwicklungsstand entspricht und die ihn auf seinem Erkenntnisweg weiterführen kann. Anderseits darf zweitens niemandem etwas anvertraut werden, das er nicht mit der entsprechenden Verantwortung für die ganze Menschheit anwenden kann. Drittens darf der freie Wille eines Menschen niemals manipulativ beeinflusst werden. Diese Geisteswissenschaft ist nicht als Alternative, sondern als Erweiterung der bestehenden Form der Naturwissenschaft angelegt. Tatsächlich beruht die Anthroposophie auf der Annahme, dass jeder Mensch in sich die Fähigkeit entwickeln kann, übersinnliche Wahrnehmungen zu erlangen. Die Ausbildung der dazu notwendigen inneren Sinnesorgane beginnt mit der gezielten Verstärkung der dem gewöhnlichen Denken innewohnenden Kraft. Konzentration und Meditation auf frei gewählte Denkinhalte und Sinnbilder sind die Mittel, um die Denkkraft zu vertiefen und sie dadurch aus dem natürlich gegebenen Zusammenhang mit den Leibesfunktionen herauszulösen. Die Wahrheit der so erkennbar gewordenen übersinnlichen Welt kann nicht mit äußeren Mitteln bewiesen werden. Diese Wahrnehmungen stimmen allerdings mit den positiven Ergebnissen naturwissenschaftlicher Forschung überein, da das menschliche Denken nur scheinbar von der äußeren Natur getrennt im Menschen auftritt. Die aus dem reinen Naturzusammenhang gewonnene Erkenntnis bedarf der wesenhaften Ergänzung durch den menschlichen Geist. Das größte Rätsel bleibt sich selbst dabei aber wiederum der Mensch. Die Frage nach seinem eigentlichen Wesen führt eben tief genug gestellt zu dem schon skizzierten Hüter der Schwelle. Wer seinem Blick standhalten kann, verlässt die Sinneswelt und dringt in den Bereich der Wahrheit vor, der von den Eindrücken der sinnlichen Welt bisher verdeckt und dadurch auch in einer gewissen Art gehütet wurde. Der Blick hinter diesen Schleier macht den Menschen erst fähig, die volle Verantwortung für sein eigenes Tun und Leben anzunehmen und die Überwindung seiner noch vorhandenen Unvollkommenheiten anzustreben.

Dazu gibt es auch ein Gegenbild. In der sich immer machtvoller verdichtenden Daseinsform der virtuellen Welt kann man eben neben allem Glanz und aller genialen Effektivität auch ein Zerrbild des werdenden Menschen gewahren. Es zeigt sich dann darin in seiner Gesamtheit das Bild eines «Fürsten der Welt», der danach trachtet alles zu beherrschen und zu kontrollieren, was zwischen Menschen auf der Erde geschieht. Er ist bestrebt, seine Macht zu nützen, um eine einzige, von ihm gestaltete Wahrheit über alles mögliche Bewusstsein auszubreiten. Das Hüten dieser Wahrheit besteht für ihn darin, jede Gegenrede in Gedanken, Worten und Taten auszulöschen. Wer dieser Schreckgestalt ins Auge schaut, erblickt darin ein wesenloses Nichts. Dieses Hüterwesen eines eigensüchtigen Weltbewusstseins besteht aus reiner Untersinnlichkeit in Form von Elektrizität und Magnetismus und strebt danach, sich grenzenlos in seiner Eigenmächtigkeit zu stärken. Vor dieser prüfenden Begegnung mit den Gegenkräften steht derzeit die Menschheit. Ein mächtiger Helfer in dieser Auseinandersetzung kann für jeden Menschen der Prolog des Johannesevangeliums werden. Das darin ausgesprochene «Licht des Lebens» wohnt jedem Wort des Menschen inne, der die Finsternis in sich erkennt und sie durch seinen Mut und seine innere Initiative beständig zu erleuchten trachtet.

«Im Urbeginne war das Wort und das Wort war bei Gott und ein Gott war das Wort. Dieses war im Urbeginne bei Gott. Dort war es, wo alles entstanden ist und Nichts ist entstanden außer durch das Wort. Im Worte war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen und das Licht scheint in die Finsternis und die Finsternis hat es nicht erkannt.»

Permalink