Gesichtspunkte zur Wahrheitssuche aus medizinischer Sich

Text: Dr. med. Harald Siber, Wien

Pontius Pilatus formulierte im Angesicht des Erlösers an der Schwelle der Zeitenwende die Kardinalfrage erstmals für alle Menschen – „was ist Wahrheit?“ Der Kampf um die Wahrheit begleitet seit jeher die Menschheit und stellt einen grundlegenden Entwicklungsimpuls dar. Was zunächst Priestern und Königen, später der Philosophie, der Theologie und der Wissenschaft vorbehalten schien, betrifft mit fortschreitender Bewusstseinsentwicklung alle Menschen gleichermaßen. Obwohl es keine allgemeingültige Definition dieses Begriffes geben kann, ist die Existenz von Wahrheit nicht zu bezweifeln, ohne sich selbst mit der Behauptung ihrer Nichtexistenz Lügen zu strafen. Denn jede sinnvolle Aussage erhebt einen Wahrheitsanspruch. Zwar „irrt der Mensch, solange er strebt“, aber Irrtümer können denkend korrigiert und widerlegt werden. Die Versuchung zur Lüge ist ein weiterer Hinweis auf die prinzipielle Wahrheitsfähigkeit des Menschen. Denn die Lüge will ja die Wahrheit gezielt verschleiern. Doch „ein guter Mensch in seinem dunklen Drang, ist sich des rechten Weges wohl bewusst“ (Zitate aus Faust.1, Prolog im Himmel).

Glaube und Wissen

Der aufgeklärte Mensch hat jedoch Mühe, seinem inneren Wahrheitsempfinden objektive Züge zu attestieren: Jeder habe doch seinen eigenen Zugang zur Welt – subjektiv, individuell. Der Wahrheitsanspruch wird dadurch nivelliert, die Fähigkeit zur Diskrimination (Unterscheidungsvermögen) in der Gesellschaft immer mehr tabuisiert und oftmals als diskriminierend gedeutet. Cancel Culture ist die öffentliche Reaktion, die jede differenzierte Auseinandersetzung im Keim erstickt.

Gleichzeitig erscheint auch der Glaube lediglich als zu überwindende Vorstufe des Wissens und nicht mehr als Grundkraft des Menschen für eine zukunftsorientierte positive Auseinandersetzung mit der Welt. Glaube ist eine Kraft, eine Fähigkeit, die zwar dem Wissen vorausgeht, aus der jedoch, wenn sicheres Wissen nicht oder noch nicht verfügbar ist, das Interesse an der Welt, der Mut zur Orientierung und Selbstvertrauen entstehen kann. Wer meint, zu glauben, hieße nichts zu wissen, übersieht, dass gerade die Wissenschaftsgläubigkeit unserer Zeit mit sogenannten Fakten übersäht ist. Auch die daraus gebildete eigene Meinung resultiert meist aus einer subjektiven Auswahl von Forschungsergebnissen, die wissenschaftlich nicht oder noch nicht ausreichend abgesichert sind.

Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft

Die Mannigfaltigkeit der Welt erfordert unterschiedliche Forschungsansätze. Der materielle Anteil in Welt und Mensch bedarf der naturwissenschaftlichen Methodik, der übersinnliche Bereich kann nur geisteswissenschaftlich erforscht werden. Der Mensch als Bürger zweier Welten, der sinnlich-materiellen und der übersinnlichen, kann daher nur mit beiden Methoden ganzheitlich erfasst werden.

Das Gegebene, die Schöpfung, hat Wahrheitscharakter, der auch in der Leibesarchitektur des Menschen zum Ausdruck kommt und durch unsere Sinneswahrnehmung der denkenden Verarbeitung zugänglich wird. Die Lebenskräfte, die sich beim Menschen nach der Entwicklung der Organe beim heranwachsenden Kind schrittweise aus der Leibesgestaltung zurückziehen, sind Grundlage unserer Bewusstseinsentwicklung. Sie stehen ab dem Schulalter immer mehr dem Denken, der Ausgestaltung der Begriffs- und Ideenwelt zur Verfügung. Die Kräfte und Gesetzmäßigkeiten der Schöpfung, die unseren Leib gestalten, wirken also in unserem Denken weiter und machen uns zu schöpferischen Menschen.

Diese menschenkundliche Tatsache bildet nicht nur eine Grundlage für den Lehrplan der Waldorfpädagogik, sondern ist auch in der anthroposophischen Medizin ein Leitfaden für das Krankheitsverständnis.

Wahrheitssuche in der Medizin

In der Begegnung mit dem Patienten stellt die körperliche Untersuchung einen wichtigen Teil der Befunderhebung dar, der Hinweise auf den Zustand des physischen Leibes und des Lebensleibes geben kann. Was sich aus dem Gegebenen im Leben entwickelt hat, entspricht einer Wahrheit auf der Ebene des Leiblichen. Durch tastenden Kontakt, durch eingehende Betrachtung konstitutioneller Zeichen und durch Abhören der aus der Leibesfunktion gebildeten Geräusche aus dem Körperinneren können wertvolle Hinweise gewonnen werden. Die Schulung der Sinneswahrnehmung ist für die Ausbildung des sogenannten „klinischen Blicks“ eine wichtige Grundlage. Weitere sich daraus ergebende diagnostische Maßnahmen wie bildgebende Verfahren und Laboruntersuchungen ergänzen dann die angestrebte Wahrheitsfindung auf leiblichem Gebiet.

Die Anamnese erweitert die am Leiblichen erhobenen Befunde im Gespräch und eröffnet den Seelenraum bis in den geistigen Bereich des Menschen: Sorgen und Beschwerden, die genauen Symptome des Leidens, der Krankheitsverlauf, Hinweise auf Krankheitsursachen und biographische Zusammenhänge rücken in den Mittelpunkt. Dabei werden die Mitteilungen des Patienten durch Fragen unterstützt und gelenkt. Dafür stehen verschiedene Methoden der Gesprächsführung zur Verfügung. Besonders hilfreich ist dabei oft die sokratische Fragetechnik, die Mäeutik (Hebammenkunst), die Patienten dabei unterstützen kann, durch geschickt gestellte Fragen aus der Einsicht des Arztes in die Krankheit und in die Persönlichkeitsstruktur, die „Wahrheit“ seines gegenwärtigen Zustandes, seines Leidens, selbst zu gebären, ans Tageslicht des Bewusstseins zu bringen. Denn erst aus Einsicht kann der Willensimpuls für therapeutische Veränderungen erweckt werden – die Verordnung von Maßnahmen alleine greift oftmals zu kurz.

Die Frage ist ja immer der Ausgangspunkt für die Suche nach der Wahrheit und die kritische Besonnenheit stellt einen Schutz vor der Verliebtheit in die gebildete eigene Meinung dar. Therapeutische Maßnahmen stellen schließlich den Versuch einer Antwort auf die Herausforderung des erkrankten Menschen dar. Der Heilungsprozess soll angeregt werden und die Entwicklung des neuen Gleichgewichtes unterstützen. Auf das umfangreiche Therapieangebot kann hier nicht weiter eingegangen werden, es richtet sich jedenfalls an den leiblichen, seelischen und geistigen Anteil des Menschen.

Positionierung der Anthroposophischen Medizin

Anthroposophische Medizin will somit eine Erweiterung der Heilkunst auf geisteswissenschaftlicher Grundlage ermöglichen, welche die Forschungsergebnisse der naturwissenschaftlichen Medizin voll anerkennt. Als integrative Medizin sieht sie ihren Schwerpunkt in der Regulationstherapie durch gezielte Anregung der körpereigenen Selbstheilungskräfte. Die Therapieprinzipien der Suppressionstherapie, der Substitutionstherapie und der Chirurgie kommen zur Anwendung, wenn regulative Maßnahmen nicht mehr möglich sind oder nicht ausreichend aktiviert werden können.

Auch in der gesellschaftlichen Diskussion zur Stellung der Komplementärmedizin im Gesundheitswesen stellt sich die Frage nach der Wahrheit. Im Zeitalter der evidenzbasierten Medizin mischen sich zu den weltanschaulichen und wissenschaftlichen Fragen immer mehr auch ökonomische und politische Machtansprüche hinzu, die zur Folge haben, dass komplementärmedizinische Verfahren marginalisiert und diffamiert werden.

Der pragmatische Wahrheitsanspruch, den Hahnemann für die Homöopathie formulierte, lautete: “Wer heilt, hat Recht“. Diese Aussage genügt zwar nicht den naturwissenschaftlichen Erklärungsansprüchen, erlaubt aber auch nicht, noch nicht Erklärbares als prinzipiell unwirksam zu erachten. Denn auch der Placeboeffekt, der gegenwärtig als einzige Erklärung für die beobachtete Wirksamkeit komplementärmedizinischer Therapien herangezogen wird, ist bis heute naturwissenschaftlich unerklärbar. Auch in diesem Zusammenhang sei nochmals auf das bereits angesprochene Verhältnis von Glaube und Wissen hingewiesen.

Was promovierte niedergelassene Ärzte, die Zusatzqualifikationen der Ärztekammer erworben haben, verordnen und Patienten für ihren Gesundungsprozess als hilfreich erachten, wird gegenwärtig zur Privatsache einer vermeintlich wissenschaftsfeindlichen sektiererischen Randgruppe erklärt. Es mutet die gegenwärtig von Gegnern heftig und polemisch geführte Wirksamkeitsdiskussion an, als ob es nicht um Heilung von Kranken, sondern um Rechthaberei auf ideologischem Felde geht.

Dreigliederung des sozialen Organismus

Dieses Prinzip der Ausgrenzung kann ja auch in der Corona-Krise besonders deutlich beobachtet werden. Die Ordnungshüter der „freien Wissenschaft“ und die politischen Führungsstrukturen haben alle jene wachen mitdenkenden Menschen, die zu den meist unvollständigen und oft auch fehlerhaften verlautbarten Datensätzen und den wissenschaftlich umstrittenen Maßnahmenkatalogen berechtigte Fragen gestellt haben, an den Rand gedrängt und oftmals sogar kriminalisiert.

Medizinische Wahrheitsansprüche und die daraus abgeleitete Deutungshoheit, gehen eben immer auch mit Machtansprüchen einher und unterliegen außerdem starken wirtschaftlichen Zwängen. Daher ist die Unabhängigkeit der Wissenschaft als Ausdruck des freien Geisteslebens eine Grundforderung der sozialen Dreigliederung, um eine Einflussnahme aus dem politischen und wirtschaftlichen Bereich möglichst auszuschließen. Die Freiheit des Geisteslebens, die Gleichheit aller Menschen im Rechtsleben und die Geschwisterlichkeit im Wirtschaftsleben bleiben als Zukunftsideale trotz vieler Rückschläge weiter wirksam.

Gegenwärtig ist jedenfalls das Grundvertrauen vieler Menschen in die Unabhängigkeit der freien Wissenschaft maßgeblich erschüttert und die Einschränkung wesentlicher Grundrechte auf fragwürdiger Grundlage ein Thema, das den gesellschaftlichen Konsens ernsthaft bedroht.

Wer kann die Wahrheit behüten?

Der Blick auf die Wahrheit ist durch Lüge, Irrtum und Illusion getrübt. Wie kann die Wahrheit behütet werden, wer kann diese Aufgabe leisten?

Die Eroberung und streitbare Verteidigung des eigenen Standpunktes oder gar der propagandagestützten „öffentlichen Meinung“ ist daher nicht geeignet, sich der Wahrheit kritisch anzunähern. Die Wahrheit liegt auch nicht in der Mitte zwischen zwei Standpunkten, sondern in der Fähigkeit, die Notwendigkeit verschiedener Blickwinkel zur Erfassung des Ganzen anzuerkennen (siehe Steiner: GA 151: Der menschliche und der kosmische Gedanke). Wahrheit ist demnach vielfältig und in ständiger Entwicklung, also zeitlich und räumlich wandelbar.

Jeder einzelne Mensch steht heute in der Verantwortung, Wahrheitshüter zu werden. Diese Aufgabe lässt sich nicht, wie in früheren Zeiten, auf andere abschieben. Dazu ist Wachheit erforderlich, um die Anzeichen der Bedrohung der Wahrhaftigkeit zu erkennen. Es braucht eigenständiges, klares Denken, um unbeeinflusst die Urteilsgrundlagen prüfen zu können. Geistesgegenwart ist die Voraussetzung, um rechtzeitig und adäquat reagieren zu können. Aus innerer Arbeit kann Selbsterkenntnis erwachsen, um allmählich die Beschränktheit des eigenen Standpunktes zu erkennen. Erst daraus entsteht Offenheit und Mut, um die Berechtigung neuer Blickwinkel auf dem Weg zur Wahrheit innerlich annehmen zu können. „Denn die Wahrheit ist etwas Einfaches nur für jenen, der sich durch die Mannigfaltigkeit durchgerungen hat. Sie ist wie ein Faden, an dem viele, viele Perlen aufgereiht sind.“ (Steiner, GA 94, S. 255)

 

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