Was ich tat und was ich tue,
O wie weit ist es vom Wort,
Denn das Wort geht durch die Ruhe,
Und die Ruhe ist mir fort.
Dieses kleine Samenkorn
Ist vom ganzen All gebaut.
Es genügt. Beginne vorn:
Bei der Liebe zu dem Laut.
Albert Steffen
Teil 1: Die Worte
Unsere Sprache wird in zunehmendem Maße von wissenschaftlichen, computerspezifischen Wortschöpfungen und Anglizismen überflutet, ebenso von Kürzeln jeglicher Art, von Worthülsen, denen man als Nichtwissender zunächst hilflos – man möchte fast sagen sprachlos – gegenübersteht. Ob in der Literatur, in den Medien oder im Alltag, unser Sprachniveau sinkt dramatisch.
Wenn wir uns die Komplexität unseres Spracherwerbs vor Augen halten, scheint es angebracht, aus Verantwortung gegenüber der Sprache als unserem höchsten Geistesgut, einen Blick darauf zu werfen, welche Mühe wir als Kinder aufgebracht haben, um sie zu erlernen. Wir haben uns unermüdlich dem Klang der Laute hingegeben, voller Hingabe gelauscht, nachgeahmt, Klangfülle und Klangfarben der Laute erfühlt, geübt, gebrabbelt und die kleinsten und feinsten Qualitäten und Gebärden einzelner Laute und später der Worte erprobt. Wir haben lustvoll unsere Sprachwerkzeuge trainiert, Atem und Stimmmodulationen ausprobiert, ihnen nachgelauscht und nachgefühlt. Irgendwann ergaben gewisse Lautgruppierungen einen Sinn und damit entwickelte sich in uns nach und nach ein anfängliches Verständnis für die Welt. So hat sich mit dem Spracherwerb unser erstes keimhaftes Denken entwickelt und gleichzeitig in unserem Gemüt eine sprachschöpferische Kraft.
Mit zunehmender intellektueller Reife verlieren wir diese Kraft und das Bewusstsein für die einzelnen Laute sowohl im Sprechen als auch im Hören. Die Sprache entwickelt sich immer mehr zu einem System zufällig gebildeter Zeichen, indem die Laute lediglich noch der sinnvollen Unterscheidung des Bezeichneten dienen. Denn nur eine Sprache mit klarem Zeichencharakter ermöglicht, dass wir uns exakt und eindeutig äußern.
Das ist auf der einen Seite durchaus wichtig, denn Sprache ist Äußerung und Äußerung setzt zwei Seiten voraus – ein Innen und ein Außen. Inneres, nicht Wahrnehmbares, wird nach außen gebracht und durch Sprache in Sinnhaftigkeit geprägt. Dabei ist es wichtig, dass diese Äußerungen präzise, eindeutig und brauchbar sind.
Auf der anderen Seite entsteht beim Sprechen ein Ungleichgewicht, da wir in unserem Sprachbewusstsein ausschließlich die Sinnhaftigkeit und die intellektuelle Bedeutung des Gesprochenen in den Vordergrund stellen und das, was wir als Kinder mühsam erübt haben, weitgehend verlieren: das Gefühl für die Lautqualität. Die qualitativen Eigenschaften der Laute und der Sprache spielen gegenüber der gedanklich-intellektuellen Bedeutung eine deutlich untergeordnete Rolle. Im Sprachgebrauch haben ästhetische Werte kaum Geltung. Wir hören über die Laute hinweg. Wer lauscht noch wirklich ihren inneren Klang? Wer hört noch beim Lesen anstatt nur zu verstehen? Können wir sie innerlich empfinden und ihre Klanggestalt fühlen und hören und dabei Glück empfinden, so wie wenn man sich über eine schöne Blume freut? Man tut gut daran, den Sinn für das zu schärfen, was in unseren Worten lebt. Unabhängig von deren kognitiver Bedeutung eröffnet sich uns so in ungeahnter Vielfältigkeit ihre Wesenhaftigkeit.
Gewiss fällt es zunächst schwer, das Lautliche vom Wortsinn zu trennen. In unserem Bewusstsein taucht sofort der Begriff auf, auf den im Wort hingewiesen wird. Aber wer es übt, wird schnell gewahr, welchen Reichtum die Sprache offenbart, ähnlich den Tönen, Akkorden, Harmonien oder Disharmonien in der Musik. Das ist kein Appell an Spezialisten oder ausschließlich fachlich Interessierte, sondern ein Appell an alle, die die Liebe zur Sprache pflegen wollen.
Im Folgenden sind einige Beispiele angeführt, an denen man den Lautsinn schärfen kann:
Es ist auffällig, dass Wortreihen mit ähnlicher Lautgestalt häufig sinnverwandte Bedeutung haben. So erkennt man z. B. an Wörtern die mit spr oder str beginnen oft eine starke Dynamik oder den Ansatz dazu: spritzen, springen, sprayen, spreiten, spreizen, sprinten, sprießen, sprossen, sprudeln, sprühen, sprechen oder strahlen, sträuben, straffen, streben, strampeln, strudeln, strömen…
Ebenso auffallend ist die Lautverbindung kn am Wortanfang. Vielen dieser Worte ist die Geste des Zusammendrückens, Zusammenziehens oder Verdichtens gemeinsam: kneifen, knebeln, knautschen, Knopf, Knochen, Knorpel, Knospe, Knauf, Knüppel…
Wohingegen bei der Lautverbindung gr am Wortanfang oft eine gewisse Disharmonie oder eine Art Unwohlsein mitklingt: Gram, Grauen, grausen, griesgrämig, gruseln, grantig, Gräuel, Grimm, grollen, grunzen, grölen, grapschen, grob, grausam…
Spricht man die folgenden Beispielwörter mehrmals laut im Sinne ihrer Bedeutung aus, erschließt sich ihre Sinnhaftigkeit bereits aus der Lautgestaltung. So im Wort schwül. Die Schwüle wird fast greifbar. Oder knapp. Die Lautfolge drückt bereits die Knappheit aus. Auch in den Worten kurz und seinem Gegenteil lang oder den Wortverbindungen kurz und knapp im Gegensatz zu weit und breit teilt sich uns aus dem Klangcharakter und der Musikalität der Worte ihr Sinn eindeutig mit.
Die wenigen Beispiele sind als Anregung zum „Lautlauschen“ zu verstehen und lassen sich beliebig erweitern. Selbstverständlich finden sich unzählige Beispiele, auf die oben Gesagtes nicht zutrifft. Aber darauf kommt es nicht an. Es geht nicht um Beweise, sondern darum, den mehr oder weniger durchsichtigen Phänomenen der Sprache schrittweise näher zu kommen. Es geht auch nicht um Lautsymbolik. Symbole bedeuten etwas. Aber der Laut bedeutet nicht, er ist. Es geht um ein übendes Sich-Einleben, Sich-Einfühlen und Ein-Hören in das Eigenwesen der Laute.
Verständlicherweise kann man den Zugang zur Lautqualität am ehesten in der Poesie finden.
Darum abschließend noch ein Beispiel für zwei sogenannte gleichbedeutende Worte. Betrachten wir finster und dunkel, so bedeuten beide Worte im nüchternen Sprachgebrauch dasselbe. Wenn wir uns aber tiefer auf sie einlassen, spüren wir einen bedeutenden Unterschied. Dunkel ist unheimlich, bedrückend, in der Dunkelheit ist es still, man kann sich darin sogar geborgen fühlen. Die Finsternis ist abschreckend, gespenstisch und bedrohlich. Sie ist aktiv. Das eine Wort vermittelt Ruhe, etwas Belastendes aber auch Geborgensein. Im anderen finden wir Aktivität, Unheimliches und Gespenstisches.
Hier ein Beispiel dazu aus Goethes „Willkommen und Abschied“:
„…Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah…“
Und eines aus Matthias Claudius „Der Tod“:
„Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer,
Tönt so traurig, wenn er sich bewegt
Und nun aufhebt seinen schweren Hammer
Und die Stunde schlägt.“
Vertauscht man die Worte „finster“ und „dunkel“, verbinden wir völlig andere Emotionen mit den Bildern.
So viel als kleine Anregung, die auf sprachlicher und lautlicher Entdeckungsreise hilfreich sein kann.
Peter Raffalt
www.speakandact.com