Reife – Natur und Mensch

Reifer werden heißt, schärfer trennen und inniger verbinden. Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929)

Text und Zeichnungen: Norbert Liszt, Oktober 2019

Sinngemäß können wir das Wachsen und Reifen der Pflanzen auf den Menschen übertragen.

Im Sommer, gegen den Herbst zu, kommt das nach außen strebende, raumgreifende Wachstum der Pflanzenwelt zu einem Ende. Vorrangiges Geschehen wird die Fruchtbildung und deren Reifung.

Die Früchte schließen sich mit ihrer Schale von der Außenwelt weitgehend ab. Die Schale ist ein sehr sensibler Ort, eine wachsende Grenze, und eigentlich ist nur die Sonnenwirkung eingeladen, über diese Grenze zu kommen. Im Gegensatz zu den Blättern, die sich ganz der Außenwelt hingeben, wird die Innenraumbildung wichtig und im Inneren der Früchte bilden sich die Keime für das neue Leben. Die Anlagen, welche die Pflanze in sich trägt und was während des Wachsens und Reifens in ihr wirksam wurde, teilt sie ihren Keimen mit, die sie als potentielle Kraft für ein neues Leben in sich bewahren. Die Fruchtbildung ist zwar ein nach außen abgeschlossener Vorgang, doch die Früchte sind das Beste, das die Pflanze anderen Wesen zur Ernährung bietet.

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Wie die Früchte grenzt sich auch der Mensch nach außen ab und bildet körperlich, durch seine Häute, aber auch seelisch eine Art Schale. Die Welt in seinem Inneren, seine Seele, ermöglicht ihm, Geist-Keime für die Zukunft zu bilden. Was durch die Seelen-Schale hindurchdringen darf, von außen nach innen und umgekehrt, das „kann“ das Menscheninnere entscheiden. Das ermöglicht, was Hugo von Hofmannsthal unter Reifwerden versteht: Unser Inneres bestimmt, was „er-innerungswert“ ist. Es trennt uns von der Welt, um nicht von ihr gegängelt zu werden und bietet uns die Möglichkeit zu einer frei gewählten, innigeren Beziehung zu allen Außendingen.

So wie die Früchte der Pflanzen eine Gabe zur Ernährung anderer Wesen sind, ist auch das, was im Inneren des Menschen reift, als Gabe an seine Mitmenschen und seine Mitwelt gedacht. Je mehr er von dem wertvollsten in seiner Seele Fruchtenden abgibt, desto kostbarer wird es.

Verinnerlichung

Wir sollten verstehen, wie der Mensch im Kosmos drinnen steht und was ihn bildet. Alle Stoffe und Prozesse, die in der Außenwelt spezielle Eigenschaften haben, werden etwas Anderes, wenn sie in den Menschen hineinkommen. Kein Prozess im Menschen ist so wie in der Natur. Die Verbrennung in der Natur ist etwas Anderes als das, was wir als Verbrennung (Verdauung) im Menscheninneren bezeichnen. Die Nahrungsstoffe, die wir aufnehmen, werden vollkommen aufgespalten. Nichts bleibt, wie es ist. Es darf nichts Fremdartiges mehr an ihnen haften, wenn die Stoffe ins Blutsystem übergeführt werden. Es würde sonst zu einem Abstoßungsmanöver führen. Die Stoffe werden den Organen und dem Individuum entsprechend neu aufgebaut. Wir grenzen uns ab gegenüber der Natur. Die Natur darf nicht ungehindert in uns hineinwirken.

Auch unsere Wahrnehmungen wirken nicht in uns weiter, auch sie werden „verdaut“ und die Seele ist aufgefordert, aus ihnen etwas ihr Angemessenes zu formen.

Wie die Pflanze über ihre Blätter das Licht in sich aufnimmt und verwandelt, nimmt der Mensch über sein Denken Geistiges auf. Doch auch das Geistig-Wesenhafte darf nicht ungefiltert in uns weiterwirken, wenn wir den Freiheitsweg gehen und uns unserer menschlichen Würde gemäß entwickeln wollen. Dem Geistig-Wesenhaften gegenüber bilden wir ebenfalls eine Grenze. Das individualisierte Geistige nennen wir das Geistselbst. Damit wird das Geistige verwandelt, wird etwas Anderes als es ursprünglich war.

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Aber aus dem Göttlich-Geistigen kommen wir nicht heraus. Wir bestehen aus göttlicher Substanz und es leben göttliche Wirkungen in uns. Das führt zu der Anschauung, die zum Beispiel der Mystiker Meister Eckhart zum Ausdruck gebracht hat: Die Gottheit schafft sich mit der menschlichen Seele einen Ort, von dem aus sie auf sich selbst und ihre Werke schaut, sich also selbst erkennen will. Sie macht sich damit zu einem „Anderen“ als sie selber ist, wird Wahrnehmungsorgan für das, was sie selber bewirkt. Diesen scheinbaren Widerspruch bezeichnet man als die Sohnschaft Gottes. Der Sohnesgott in unserer Seele schaut mit uns auf den Vater und die Vaterwelt. Er hat den Willen, aus dem unbefangenen, objektiven Erkennen des Vaters und seiner Welt die Weltentwicklung weiterzuführen. Wahre Selbsterkenntnis des Menschen ist unter diesem Gesichtspunkt gleichbedeutend mit der Selbsterkenntnis Gottes. Göttliches in uns erkennt Göttliches. Der Erkennende wird eins mit dem Erkannten (Meister Eckhart). Wenn wir Menschen dieses Göttlich-Andere, Göttlich-Sohnhafte entwickeln wollen, müssen wir uns abgrenzen, um frei zu werden von äußeren Einwirkungen. Der gereinigte, voraussetzungslose Blick in unser Seeleninneres, auf unseren Seelengrund, ist das anzustrebende Ideal des freien Menschen. Dort können wir uns selber finden als Ebenbild Gottes und können über diesen Weg einen innigeren Zusammenhang mit der uns umgebenden Welt herstellen. Im Erkennen vollzieht sich, was sich in der Außenwelt nirgends vollzieht: Das Weltgeschehen stellt sich selbst sein geistiges Wesen gegenüber. Ewig wäre dieses Weltgeschehen nur eine Halbheit, wenn es zu dieser Gegenüberstellung nicht käme“¹.

Unter diesem Gesichtspunkt muss alles, was den Menschen betritt, anders werden. Was wir aufnehmen, verwandeln wir, damit es uns, unserem Wesen entsprechend, nähren kann. Die Seele reift, indem sie verinnerlicht, was die Welt ihr entgegenbringt. Aus dem Erfahrungsreichtum, den sie in sich anhäuft, kann sie  schöpfen, um Antwort zu geben auf die Fragen, die das Leben an sie stellt.

Grenzbereiche

Der Apfel beginnt zu faulen, wenn seine Schale beschädigt wird. Die Grenze, die ein Inneres von einem Äußeren trennt, ist ein sehr sensibles Gebiet.

Wie gut gelingt der Übergang von einem zum anderen und von welcher Qualität sind die übergängigen Dinge? Auch der körperliche und seelische Grenzbereich des Menschen ist sehr verletzlich. Körperliche Äußerungen dieser Tatsache dürften die immer häufiger auftretenden Allergiekrankheiten sein.

Angriffe von außen und innen wirken auch auf unsere „Seelenhaut“ ein. Im Inneren sind es Gefühlsschwankungen, Gedankenfluten und Willenskapriolen, die an ihr rütteln. Sinnesreize aller möglichen Qualitäten dringen von außen auf sie ein und sie soll allen diesen Einwirkungen gewachsen sein. Was darf herein, was darf hinaus? Wer oder was entscheidet darüber? Das bedeutet, die Qualität der Grenze zwischen innen und außen ist etwas sehr Wesentliches. Es braucht eine Instanz, die fähig ist, die Durchgängigkeit der seelischen Haut zu regeln. Die ist nicht in der Außenwelt zu finden. Wir müssen in unserer Seele nach ihr suchen.

Wir können zwar entscheiden, was unsere Seelenhaut passieren darf. Doch dieses Können muss erst kultiviert werden. Die  genannte Instanz, unser Ich, muss am Leben reifen, um fähig zu sein, Innen- und Außenwelt in ein gesundes Verhältnis zueinander zu bringen. Je deutlicher die Abgrenzung von der Natur wird und je mehr wir als sich selbstbestimmende Wesen der Welt gegenübertreten und auf sie gestaltend einwirken, desto dringender wird es, zu fragen, wie wir diese innere Autorität heranbilden können.

Wie der Apfel die Sonne auf sich wirken lässt, um zu reifen, so reift die Seele, indem sie die Geistes-Sonne in sich zur Wirksamkeit bringt.

¹ Rudolf Steiner, GA 7, Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung

Literatur: Rudolf Steiner, Das Miterleben des Jahreslaufes in vier kosmischen Imaginationen, 5. Vortrag, GA 229

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