Schöne Erfahrung

Text: Norbert Liszt, Wien

Die Ästhetik ist ein Phänomen, das sich nicht allein auf Erfahrungen der sinnlichen Welt beschränken lässt. Sie gibt den Blick auf eine Welt frei, die den irdischen Beschränkungen nicht unterworfen ist. Schönheit ist das Maß, dem sich die Gebilde der Kunst stellen.

Die Kunst erlaubt sich über das sinnlich Wirkliche hinauszugehen. Sie begibt sich in eine Scheinwelt. Friedrich Schiller hätte gesagt, der Künstler spielt mit der Wirklichkeit. Er respektiert sie, anerkennt ihre Gesetze, aber er will sich von ihren Gesetzen nicht einschränken lassen und kreiert einen ästhetischen Schein. Bliebe er bei der bestehenden Wirklichkeit und würde er diese einfach nur nachbilden, wären seine Werke keine Kunst im eigentlichen Sinne. Soll es einen Fortschritt geben, kann man nicht beim Bestehenden bleiben. Das gilt für alle Lebensbereiche. Alles Tun kann in diesem Sinne zur Kunst werden. Wer Neues entwickeln will, muss sich über die Wirklichkeit hinauswagen, um in sich etwas erscheinen zu lassen, das von geistiger Art ist.

Diesem in ihm auflebenden Ideenhaft-Geistigen kann dann eine physische Form gegeben werden. Damit prägt der Menschengeist dem Stoff eine Idee, ein Geistiges ein. (Stoff ist hier sehr weit gefasst gemeint – er kann Wort, Klang, Farbe, Stein … sein).

Kunst und Wirklichkeit

In dem Essay „Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke“ macht Goethe deutlich, dass die Kunst nicht beim Bestehenden bleiben, sondern Wege zu deren Verwandlung und Weiterentwicklung setzen will. Als Beispiel bringt er unter anderem folgende Episode: Ein Naturforscher hat einen Affen als Haustier. Dieser sitzt über einem Buch, in dem sich Darstellungen von Käfern befinden. Der Affe reißt die abgebildeten Käfer heraus und verspeist sie. Er kennt nur naturwirkliche Käfer. Er nimmt den Schein (die Abbildung) als Wirklichkeit und verhält sich zu ihm wie zu einer Wirklichkeit, also verspeist er die unwirklichen Käfer. Goethe will damit sagen: Die Kunstwerke wollen auf eine andere Art genossen werden als die Naturwerke. Wer nicht eine ästhetische Kultur in sich trägt, der gleicht dem Affen, der die abgebildeten Käfer frisst, statt sie zu betrachten, um dadurch Kenntnis über das Wesen der Käfer zu bekommen.

Sinnliche und geistige Empfindung

In der Seele des Menschen erscheint die Idee. Es leuchtet ihm etwas ein und impulsiert einen schöpferischen Prozess. Die Erfahrung des Einleuchtens ist seine Intuition und die ist kein physisch-sinnlicher Vorgang. Sie ist von übersinnlicher Art, wenn auch behauptet wird, dass sich die Ideen durch einen physischen Prozess in unserem Gehirn bilden. Die Intuition ist nirgends physisch vorhanden. Jeder Mensch hat Intuitionen (intuitus = die Anschauung). Sie sind unsere geistigen Empfindungen. Wie wir die Gegenstände und Vorgänge der Welt mit unseren leiblichen Sinnen wahrnehmen und zu einer Erfahrung machen, so nehmen wir durch ein geistiges Sinnesorgan Ideen auf. Unser Denken wird zum Wahrnehmungsorgan der Ideen.  Intuition ist also das Empfangen und Verinnerlichen von geistigen Offenbarungen. Die Seele des Menschen ist der Ort, in dem beide Wahrnehmungen zusammenfinden, die geistige und die sinnliche.

Grundsätzlich kann jeder Mensch sein Tun zur Kunst veredeln und über seine Fantasiekräfte das, was in seinem Geist erscheint mit der Wirklichkeit zusammenbringen und Taten zu deren Weiterentwicklung setzen. Die Fantasie hat einen sie schützenden Begleiter und das ist der gesunde Wirklichkeitssinn. Kommt ihr dieser Begleiter abhanden, besteht die Gefahr in illusionäres Fahrwasser zu geraten. Es gibt zahlreiche Verführungen, die unsere Empfindungen und unseren Verstand vernebeln. Sie locken uns in Scheinwelten, in denen das gesunde Urteilsvermögen hart geprüft wird. Sehr leicht können wir den verschiedenen Formen von Täuschungen und Selbsttäuschungen verfallen. Besondere Formen, die unser Urteilsvermögen auf die Probe stellen, sind die Ausflüsse der Medien und deren digitale Weiterentwicklung, als auch die sogenannte künstliche Intelligenz. Sie bringen seltsame Blüten hervor, aber auch viele Annehmlichkeiten. Wenn der Mensch sich nicht zum Herrn über diese Art der vermeintlichen Intelligenz macht und sie in sinnvolle Bahnen lenkt, wird er zu deren Untertan. Dann droht er zum Sklaven seiner selbsterzeugten Sklaven zu werden und das Menschliche wird ins Apparatehafte transformiert. Was man künstliche Intelligenz nennt, ist ein von Menschen kreiertes Datenrechensystem. Es ist nicht intelligent. Nur ein menschliches Bewusstsein kann mit den Daten intelligent umgehen. Die Ästhetik vermag uns aus dieser Misere herauszuhelfen, denn sie wendet sich an den empfindsamen und schöpferisch veranlagten Menschen und ist ein Mittel, dem Technokratentum zu entkommen.

Der Mensch trägt das Potential in sich, den genannten Verführungen zu widerstehen und die Zeichen seiner Zeit zu erfassen. Er kann versuchen dem zur Geburt zu verhelfen, nach dem diese Zeit verlangt. Die Geschichte lehrt ihn, wie sich Dinge gestaltet und umgestaltet haben. Er kann Entwicklungsgesetzmäßigkeiten aufspüren und diesen Strom der Gestaltungen in die Zukunft führen, indem er eine Technik entwickelt, die in der Lage ist, das, was er in seiner Fantasie kreiert, in Wirklichkeiten umzusetzen. Er prägt damit den physischen Verhältnissen den Geist ein und möchte dem einzelnen Objekt den Glanz einer Ganzheit verleihen. Dieser Schein des Universellen im Einzelnen kann als schön empfunden werden und wird bei empfindsamen Menschen Bewunderung hervorrufen.

Ästhetik begründet Ethik

In dieser Weise ist die Ästhetik ein Weg zur Kultivierung des Menschen.  Man kann sagen, Ethik keimt in Schönheit. Sie ebnet dem Menschen den Weg zur individuellen und gesellschaftlichen Freiheit.

„Ist der innere Mensch mit sich einig, so wird er auch bei der höchsten Universalisierung seines Betragens seine Eigentümlichkeit retten, und der Staat wird bloß Ausleger seines schönen Instinkts – die deutlichere Formel seiner inneren Gesetzgebung – sein.“¹

Meint man es ernst mit der Freiheit, dann nützt man sie dazu, sich von den bestehenden Verhältnissen nicht einschränken zu lassen. Der Freie möchte in sich den Atem der Weltseele spüren und in der so durchatmeten Seele will der Weltgeist seine Wirkung entfalten. In sehr schönen Worten bringt das Goethe in seinem Gedicht „Eins und Alles“ (siehe unten) zum Ausdruck. In diesem Sinn kann man sagen: Der Mensch, der empfindsam ist für die Vorgänge der Welt, möchte durch den Geschmack des Ewigen, das sich in allem fort regt, das ihn überwältigende Wollen, Fordern und Sollen befrieden.

„Der Mensch kann sich auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören. Der Wilde verachtet die Kunst, und erkennt die Natur als seinen unumschränkten Gebieter; Der Barbar verspottet und entehrt die Natur, aber verächtlicher als der Wilde fährt er häufig fort, der Sklave seines Sklaven zu sein. Der gebildete Mensch macht die Natur zu seinem Freund, und ehrt ihre Freiheit, indem er bloß ihre Willkür zügelt.“¹

Seine Triebe dürfen nicht über seine sittlichen Grundsätze herrschen. Er macht sich frei von inneren Zwängen, indem er seine Triebe, Begierden und Leidenschaften zügelt. Auch sein Verstehen möchte er mit diesem Geschmackserlebnis befruchten, damit es seinen Zwecken fühlende Empfindung verleiht. Er macht sich damit frei von starren Satzungen und Bestimmungen, indem er eine persönliche Beziehung zu den Vorgängen seiner Mitwelt eingeht und sich in Liebe mit ihnen verbindet. Dazu Goethe: „Wahre Pflicht ist, wenn man liebt, was man sich selbst befiehlt!“ So ist der Mensch den äußeren Gegebenheiten und inneren Trieben und Bedürfnissen nicht ausgeliefert, sondern kann sich frei beweglich zu ihnen verhalten.

Der Mensch ist zur Kunst veranlagt, schmecken (erleben) zu können, welchen Beitrag sich die Welt von ihm wünscht. (Die Übersetzung des lateinischen Wortes sapere lautet interessanterweise sowohl schmecken als auch verstehen, weise sein). Durch seinen Freiheitstrieb hat der Mensch auch das Potential, sich selbst zu diesem Beitrag aufzurufen. „Frei über den Trieben der Natur, frei über den Gesetzen der Sinnlichkeit, frei über Leidenschaften und Menschensatzungen zu walten, das ist des bessern Menschen Weg und Ziel.“²

Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruss;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt lästgem Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben ist Genuss.

Weltseele, komm, uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend höchste Meister
Zu dem, der alles schafft und schuf.

Und um zu schaffen das Geschaffne,
Damit sich’s nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges, lebendiges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden;
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht’s Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muss in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.

Johann Wolfgang Goethe

¹ Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen
² Rudolf Steiner, GA 271, Kunst und Kunsterkenntnis, Grundlagen einer neuen Ästhetik

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