Schönes nährt

Bei der Betrachtung eines Bildes

Text: Helga Bläuel, Tulbing, NÖ

Ein Bild ist ein Gegenüber, das ich in erster Linie über den Sehsinn wahrnehmen kann. Das Wahrgenommene scheint wie direkt verknüpft zu sein mit dem Empfinden und dieses wiederum meist mit dem Urteilen. Sehr schnell zeigt sich, ob mir das Bild gefällt oder nicht.

Es ist, als ob ein Teil meiner Seele angenehm oder unangenehm gespiegelt werden würde.

Widme ich mich dem Vorgang der Betrachtung und des Erlebens und schließlich der Erschließung eines Bildes eingehender, so kann ich dazu verschiedene Wege einschlagen.

Der eine und von alters her gewohnte ist derjenige, auf dem ich Gegenständliches auf dem Bild wieder erkenne und mich in dieser Weise orientiere. So kann in völlig abstrakten Bildern schnell da ein Tier, dort ein Gesicht erkennbar erscheinen. In früheren Zeiten waren Bilder durchaus Botschafter von geistigen Inhalten, in eine Lesbarkeit gebracht durch die Kunstfertigkeiten des Malenden. Unter Umständen bin ich auf diese Weise schnell mit einem Bild „fertig„, weil ich ja jetzt weiß, was darauf ist.

Ein weiterer Weg ist, besonders wenn ich mit einem Bild zunächst nichts verbinden kann, zu versuchen, mich in die Verfassung dessen, der das Bild gemalt hat, hineinzuversetzen; gleichsam ein Stück weit den Entstehungsvorgang nachzuvollziehen. Auch auf diesem Weg werden Saiten in meiner Seele angeregt, die mich entdecken lassen und letztlich zu einer Erkenntnis führen. Eventuell verfange ich mich aber in Interpretationen und Spekulationen, die mich sogar eher vom Bild wegführen, als näherbringen.

Eine weitere Möglichkeit ist es, mir bewusst klarzumachen, was ich eigentlich sehe und wie es zu den Gefühlen und Urteilen kommt. Dies ist systematisch-methodisch möglich. Eine oft verwendete Methode besteht darin, sich vier Ebenen in der Betrachtung klarzumachen:

Rudolf Steiner, Ostern, Aquarell, 1924

  1. Was ist rein physisch vorhanden?

Welches Format wurde gewählt, welcher Maluntergrund, welches Farbmaterial? Sind es durchscheinende Aquarellfarben auf Papier, oder Pastellkreide, ist es deckende Farbe oder schon fast reliefartig aufgetragen – vielleicht mittels anderer Materialien noch verstärkt? Wie sind die Elemente auf dem Untergrund angeordnet? Dieser erste Schritt ist vielleicht der schwierigste, weil er einen Verzicht auf Beurteilung oder Interpretation bedeutet. Doch gerade darin kann ein Schlüssel zu vertiefter Betrachtung liegen, zu Entdeckungen und vielleicht auch Überraschungen.

  1. Wie ist das Verhältnis der Elemente zueinander?

Überwiegen Leichte oder Schwere als Eindruck? Wie wurde mit dem Material umgegangen? Erlebe ich Transparenz und Sorgfalt oder eher willensmäßige Dynamik im Pinselstrich?

  1. Mein eigenes Gefühl als Erkenntnisorgan.

Kann ich frei atmen oder fühle ich Beengung? Ist da Statik oder Bewegung? Offenheit oder Dichte? Werde ich wach oder schläfrig? Welche Empfindungen und Gefühle werden angeregt?

  1. Die Aussage. Ich wende mich der Frage zu, was der Inhalt, die Aussage, das Motiv des Dargestellten sein mag. Im günstigen Fall bin ich der Entschlüsselung dieser „Sprache“, dem Inhalt des Bildes, durch den Prozess 1-4 nähergekommen.

Die Welt der Farben

Im Folgenden möchte ich einen erweiterten Zugang zur Welt der Farben andeuten. Fußend auf Impulsen durch Goethes Farbenlehre und vertieft durch Rudolf Steiners Ausführungen zum Wesen der Farben können wir uns auf die Qualität und schöpferische Lebendigkeit der Farben selbst fokussieren.

Wir können die einzelnen Farben nach ihrem Charakter befragen und des weiteren versuchen zu erlauschen, was die eine Farbe zur anderen spricht, was sie untereinander bewirken. Ein Orangerot kann gerade durch eine helle Kontrastierung verstärkt als auf uns zukommend erscheinen. Seine Möglichkeit, die ihm innewohnende geballte Kraft zu verströmen kann erfahrbar werden.

(Man denke sich für einen Moment, auf den grünlichen Bereich in der Bildmitte blickend, alles Rot weg.)

Das Blauviolett kann einen Tiefenraum schaffen.

Dazu kommen die Größenverhältnisse der Farbflächen zueinander, sowie deren Platzierung im Bild, wobei da durchaus ein Zusammenhang besteht. Eine sehr dunkle Farbe wird im Bild eine andere Ausdehnung haben, je nachdem, ob sie im unteren Bereich erscheint oder im oberen.

Wir können uns klarmachen, dass wir als Betrachter im Bild ein Gegenüber finden, das wir als einen in sich geschlossenen Organismus wahrnehmen und in das wir uns mit unserer ganzen Gestalt einmessen können. Was wir sehen, beeinträchtigt unmittelbar unser Lebensgefühl, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Als Verdeutlichung können wir daran denken, wie Vieles wir in einer Erstbegegnung mit einem Menschen sofort, in der ersten Sekunde, erkennen. Viele Sinne sind beim Sehakt mitbeteiligt. Was in diesem ersten Moment blitzartig klar ist, wird schnell überdeckt von Inhalten, Vorstellungen und dem zwischenmenschlichen Kontakt. Hinweisen will ich damit auf die Fähigkeit, die mit einem „inneren Maßstab“ zusammenhängt, auf den wir Wahrgenommenes beziehen. Geht der Mensch gerade oder einseitig, ist seine Haltung entspannt, offen oder wie etwas verbergend, … — was für ein Mensch ist er?

Wir können bei der Betrachtung von Bildern üben, am Maßstab unseres eigenen Organismus wahrzunehmen, also wahrzunehmen, wie die Verhältnisse sind zwischen dicht und leicht, strukturiert und öffnend, Halt gebend und lösend, schwer und leicht etc.

Beim aufmerksamen Betrachten wird deutlich, dass es Bilder gibt, die unserer Seele ausgesprochen guttun, und damit auch unserem gesamten Organismus, und seiner Verbindung zur Welt. Die Verhältnisse können heilsam sein, oder auch nicht.

„Dummes Zeug kann man viel reden,
Kann es auch schreiben,
Wird weder Leib noch Seele töten,
Es wird alles beim Alten bleiben.

Dummes aber, vors Auge gestellt,
Hat ein magisches Recht;
Weil es die Sinne gefesselt hält,
Bleibt der Geist ein Knecht.“

Johann Wolfgang von Goethe

Mögen Sie Freude finden an der Entdeckung einer vertieften Wahrnehmung, vielleicht auch des „Altbekannten“.

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