Sich selbst erschaffen

Text: Norbert Liszt

Sich selbst erschaffen, was kann das bedeuten? Darauf wird so mancher antworten: „Ich bin doch schon etwas, bin schon ein Gewordener, einer, der mit sich selbst schon lange umgeht! Wenn mich aber jemand fragt, ob ich mich selbst kenne und wie ich mit mir selbst zurechtkomme, werde ich darauf keine befriedigende Antwort geben können. Jedenfalls habe ich die Möglichkeit, mit mir selber in einen Dialog zu gehen. Mein Erkenntnisbedürfnis und die achtsame Innenschau können mir Wege zu einer Erkenntnis meiner selbst eröffnen und vielleicht tut sich damit eine Tür auf, die der Anfang eines neuen, vertieften Verhältnisses zu meiner Mitwelt ist. Das innere Gespräch lässt mich erfahren, dass in mir eine doppelte Neigung lebt. Die eine ist der Drang von mir loszukommen, um mich anderen zu widmen und Interesse an meiner Umwelt zu entwickeln. Die andere ist der Wunsch, in mir selbst leben zu können.“

Selbsterfahrung

Die Selbstkonfrontation wird viele Fragen aufwerfen. Fragen, die uns selber und unsere gesellschaftliche Beziehung und Verantwortung betreffen. Sind wir fähig, verantwortlich gegenüber uns selbst und anderen zu handeln? Ich habe den Eindruck, dass in unserer Bevölkerung die Meinung vorherrschend ist, nur amtliche Verordnungen können die Menschen dazu bringen, sich im Sinne eines Gemeinwohls zu verhalten. Lässt man aber zu, das was man unter Gemeinwohl versteht, zu verhandeln?

Wir haben die Wahl, uns fraglos in Verordnungen zu fügen oder uns zu fragen, wie wir persönlich mit diesen Verordnungen umgehen können. Es ist bequemer, sich von dem außen Heranwehenden mittragen zu lassen, als sich aufzuraffen, in Selbsterkenntnis neu belebte¹ Schritte zu wagen. Wir können uns im Strom der Masse verlieren, und uns als so Verlorene, an Mächte wenden, die Orientierung geben. Diese Gabe wird aber nur dann fruchtbar sein, wenn wir sie unserem Seelensein entsprechend verdauen können. Selbsterkenntnis und Welterkenntnis sind Geschwister, eines der beiden zu vernachlässigen, wird die Gedankengänge verengen.

Eigentlich ist jeder Mensch ein ganzer Kosmos an Möglichkeiten. Wenn wir uns gesellschaftlich ziellos herumtreiben, nutzen wir diesen Kosmos schlecht. Ein anderes wäre, fragend in diesen Kosmos einzutauchen. Wie kann ich mich selbst erkunden und aus der Erkenntnis meiner selbst meine Lebenswege pflastern? Rudolf Steiner empfiehlt im unten angeführten Wochenspruch, darauf zu achten, wie unsere Seele gestimmt ist. Die Entdeckungsreise in die Tiefen unserer Seele kann unangenehme Erfahrungen ans Tageslicht bringen. Der Selbstsinn stellt möglicherweise fest, dass viele unserer Seelenregungen dunkel und rätselhaft sind. Dieses Bemerken unserer Seelenstimmung ist schon ein Erhellen. Wir selbst sind es, die unsere Seelenstimmung wahrnehmen. Im Alltagsleben, wenn wir von Eindruck zu Eindruck hasten, haben wir meist nur eine dumpfe Empfindung von uns selbst. Durch unvoreingenommene Selbstbefragung können wir entdecken, wie es um unsere Persönlichkeit steht. Wir kommen auf diese Weise in ein inneres Gespräch, welches sich zur Kontemplation und Meditation steigern kann.

Zwei-in-einem

Hannah Arendt spricht in ihrem Werk „Vita activa oder vom tätigen Leben“ vom Wunder des Anfangs. Die natürliche Geburt sieht sie als „den Anfang eines Wesens, das selbst im Besitz der Fähigkeit ist anzufangen. Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang der Menschen immer wieder unterbricht und vor dem Verderben rettet … ist schließlich die Tatsache der Natalität, des Geborenseins … das Wunder besteht darin, dass überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins“. Die Fähigkeit anfangen zu können, Neues in die Welt zu bringen, erwirbt sich der Mensch durch die Möglichkeit in ein denkend-fühlendes Zwiegespräch mit sich selbst einzutreten. Diese innere Dualität, die Hannah Arendt als „Zwei-in-einem-Sein“ bezeichnet, ist die Konfrontation mit der eigenen Moralität, dem „individuellen Gesetz“ in uns. Wir wollen dadurch mit uns selbst in Übereinstimmung kommen, um uns nach uns selbst formen zu können.

Es wäre schön, wenn wir mit dem Bemühen um diese Form der Selbsterkenntnis und Selbstbefähigung an die Probleme unserer Zeit herangehen würden. Selbstkultivierung ist eine Kunst. Sie erfordert Übung und Übung bedeutet, sich selber zu gestalten. Dazu Michel de Montaigne: „Durch Übung entsteht eine zweite Natur, die im Unterschied zu unserer ersten Natur, eine selbstgeschaffene ist“.

Gebote und Verbote als Regulierungen unseres sozialen Miteinanders sind eine Notwendigkeit. Die Würde des Menschen ist der hohe Wert, dem sie verpflichtet sind. Sie zu achten und zu schützen bedeutet, dass uns die Regulierungen nicht einengen dürfen, sondern Raum für ein respekt- und verantwortungsvolles Miteinander schaffen und uns als mündige, aus Einsicht handelnde Wesen anerkennen. Es liegt im menschlichen Wesen, sich selbst Persönlichkeit zu geben und als solche mit der Welt in Beziehung zu treten. Von einem solchen Wesen will der Weltengeist neu belebt werden¹.

¹  Sich selbst erschaffend stets

Wird Seelensein sich selbst gewahr;

Der Weltengeist, er strebet fort

In Selbsterkenntnis neu belebt

Und schafft aus Seelenfinsternis

Des Selbstsinns Willensfrucht.

   Rudolf Steiner, Wochenspruch aus dem Anthroposophischen Seelenkalender

 

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