Wie der Mensch jenseits der Schwelle – Arnold Schönbergs Wirken

Text: Michael Walter, Salzburg

Mein persönliches Gefühl ist, dass Musik eine prophetische Botschaft vermittelt, die eine höhere Form des Lebens enthüllt, auf die die Menschheit sich hin entwickelt. Und gerade dieser Botschaft wegen wirkt Musik auf Menschen aller Rassen und Kulturen“.

In seiner Ansprache anlässlich einer Ehrung im Jahre 1947 spricht Arnold Schönberg das an, was für uns Anthroposophen von größtem Interesse sein kann. Dieser Wegbereiter ist im besten Sinne ein Wegweiser. Wie heißt übrigens das Blatt, wofür ich gerade schreibe…?

Schönberg ist in seinem Leben oft wie am Abgrund gestanden und hat hineingeleuchtet in den Bereich jenseits der Schwelle zur geistigen Welt, wenn er an gleicher Stelle weiterspricht: „Ich sehe nur, dass ich immer der Schuldige war. Aber ich habe eine Rechtfertigung: ich war in ein Meer gefallen, in ein Meer von überhitztem Wasser, und es brannte nicht nur meine Haut, es brannte auch in mir. Und ich konnte nicht schwimmen…“

Rudolf Steiner schildert uns in vielen Werken, besonders prägnant auch in seinen vier Mysteriendramen, wie es dem Menschen an der Schwelle, wie es ihm „drüben“ geht:

  • Der Mensch allein ist für die Ordnung, für seine Führung verantwortlich.
  • Alte Wirkungen und Gewohnheiten müssen den neuen kosmischen Gesetzen der geistigen Welt weichen.
  • Nur was sich selbst gestaltet, „ist“. Anderes ist Vergangenes. Oder an dieser Stelle „Illusion“.
  • Denken, Fühlen, Wollen – waren im Diesseits verbunden, aneinandergebunden. Jetzt lösen sie sich voneinander.

Wie Rudolf Steiner im zweiten Vortrag im „Tonerlebnis im Menschen“ (GA 283) aufzeigt, gibt es auch in der Musik die Dreiheit, die dem Denken, Fühlen und Wollen entspricht: Melodie, Harmonie und Rhythmus. Und hier können wir ansetzen, wenn wir auf Schönbergs Impuls schauen.

In der Musik von Arnold Schönberg ist eine Kulturtat gesetzt worden als hörbares Zeichen, dass die Menschheit an dieser Stelle bereits über die Schwelle gegangen ist. Denn die drei „Melodie, Harmonie, Rhythmus“ haben sich verselbständigt. Musikalische Elemente, die früher sich tonalen Kategorien (in erster Linie dem Harmonischen mit Tonart und Grundton) hingaben, verselbständigen sich:

  • Die Melodie löst sich aus ihrem tonalen Zusammenhang. Es kommt zu einer Verselbständigung des Motivischen. Motivische Zusammenhänge können aufeinander bezogen werden, beziehen sich nicht mehr auf eine übergeordnete tonale Ordnung. Die Melodie wird weiter aufgesplittert bis zum Intervall und zum Einzelton. Daraus verselbständigt sich das Intervall. Die Melodik ist nicht mehr an eine bestimmte thematische Gestalt gebunden.
  • Die Harmonie verliert ihre Form bzw. die zusammenhangschaffende Funktion. Ist nicht mehr kausal-funktional. Ist also nicht Funktion, sondern Ausdruck.
  • Der Rhythmus wird aus seinem metrischen Zusammenhang herausgelöst und entwickelt sich zu einer „freischwebenden Rhythmik“. Wir erleben nun das Freiwerden bzw. die Verselbständigung des Rhythmus.

Natürlich müssen wir wie bei allem behutsam vorgehen, wenn wir die Dreiheit „Denken, Fühlen, Wollen“ mit der Dreiheit „Melodie, Harmonie, Rhythmus“ zusammenbringen. Wenig hilfreich ist es, wenn wir diese Zuordnung intellektuell in ein festes Schema zwingen. Sehr hilfreich ist es hingegen, wenn wir uns auf den Weg machen, hier Neues zu entdecken, empfindend zu erkennen.

So konnten bei einer anthroposophischen Tagung im Herbst 2021 in Thörl-Maglern erste Schritte gesetzt werden. Ganz entscheidend war hier wie bei aller musikalischen Forschung die Hilfe der Eurythmie, greift und gestaltet sie selbst in der künstlerischen Betätigung aus diesem Bereich jenseits des physischen Erlebens.

Ausblickend schauen wir in unsere Zeit. Oft bekommt man auch hier einen verworrenen Eindruck. In dem öffentlichen Raum gibt es bei den Meinungen, Ideen, Impulsen, Einschränkungen, die wir alle durchmachen müssen, kein absolutes Unten, kein klares Rechts oder Links. Was wir zur Zeit erleben: Ist es ein Vor- oder Rückwärts?

Das soll an dieser Stelle nicht näher ausgeführt, beurteilt und beantwortet werden. Leicht provokativ gesagt: Vielleicht bekommen wir bei Schönberg – aus dem geisteswissenschaftlichen Blick – auf diese Fragen eher Antworten als in der täglichen Presse.

Schließen wir mit Worten von Arnold Schönberg aus der berühmten Gedenkrede aus dem Jahre 1912: „Es gibt nur einen Inhalt, den alle großen Menschen ausdrücken wollen: die Sehnsucht der Menschheit nach ihrer zukünftigen Gestalt, nach einer unsterblichen Seele, nach Auflösung im Weltganzen, die Sehnsucht dieser Seele nach ihrem Gott…“

Anmerkungen:

  • Alle Schönberg-Zitate aus „Unter neuen Vorzeichen“ (Bruckner, Mahler, Schönberg und ihr karmischer Umkreis) von Frank Berger, Verlag am Goetheanum.
  • Zum Spielen, Hören und Studieren empfohlen: Arnold Schönberg 6 kleine Stücke op. 19.
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