Ursprache, Lautsprache Muttersprache

und ihre Bedeutung für die menschliche Entwicklung

  •  – Autor: Dr. Wolfgang Peter

Die Sprache der Natur – Am Anfang war das Wort

Die Natur tönt von allen Seiten, im Rieseln der Quelle, im Rauschen des Baches, des Windes, der Wälder, in Blitz und Donner – ja, auch im Blitz, denn wir können auch das Licht innerlich als tönend empfinden. Zurecht sprechen wir von „schreienden Farben“, zurecht sagt Goethe in seinem „Faust“: „Die Sonne tönt nach alter Weise“ und man kann den Sonnenaufgang wie er empfinden:

Ungeheures Getöse verkündet das Herannahen der Sonne.

ARIEL. Horchet! horcht dem Sturm der Horen!
Tönend wird für Geistesohren
Schon der neue Tag geboren.
Felsentore knarren rasselnd,
Phöbus‘ Räder rollen prasselnd,
Welch Getöse bringt das Licht!
Es trommetet, es posaunet,
Auge blinzt, und Ohr erstaunet,
Unerhörtes hört sich nicht.
Schlüpfet zu den Blumenkronen,
Tiefer tiefer, still zu wohnen,
In die Felsen, unters Laub!
Trifft es euch, so seid ihr taub.

Stark prägt diese Sprache der Natur den Menschen, sie wirkt auf seine Seele. Die Sprache der Natur ist – in diesem Sinne – eine seelische Wirklichkeit! Das Tönen, der Klang, die Sprache, das Wort ist etwas, was in intimster Weise auf die Seele wirkt und sie bildet – während umgekehrt chaotische Geräusche die Seele verbilden. Die Klangkakophonie der modernen Großstädte ist wenig geeignet, das Seelenleben des Menschen zu fördern. Stumpf ist unser Hören geworden – und das ist geradezu ein notwendiger Schutz gegen die Misstöne unserer Zeit. Aber wir haben dadurch viel an feiner seelischer Empfindsamkeit verloren – sowohl gegenüber der Sprache der Natur, als auch gegenüber der Sprache unserer Mitmenschen.

Die Sprache des Menschen wurzelt in der Sprache der Natur. Hier ist ihr Ursprung, und nur so kann man die Worte verstehen, mit denen das Johannes-Evangelium beginnt: „Am Anfang war das Wort …“ Nicht umsonst ging man früher in den Heiligen Hain, um dort seine Inspirationen zu empfangen. Die Natur spricht zum Menschen, wenn seine Seele dafür offen ist. Das galt namentlich für die Priesterinnen, weil die weibliche Seite der Seele gemeinhin viel empfänglicher und offener für das Seelische ist, das ihr entgegentritt. Und so begann sich im inneren Nacherleben der beseelenden Sprache der Natur allmählich die menschliche Sprache zu formen. Wie heißt es doch bei Goethe:

Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren.

Wobei nur noch zu bedenken ist, dass die Seele weder männlich noch weiblich ist, sondern stets beide Elemente enthält, mit allerdings individuell ganz unterschiedlicher Gewichtung bei jedem einzelnen Menschen.

Lautäußerungen der Tiere

Auf ihrem Weg durch die Naturreiche hin zum Menschen verwandelt sich die Sprache der Natur, und zwar so, dass diese Entwicklung ein Zeichen der Verinnerlichung des Seelischen ist. Mit der Verinnerlichung wächst zugleich das Bewusstsein, um schließlich im Menschen zum Selbstbewusstsein zu erwachen. Die Sprache der Natur scheint dabei zunächst zu verstummen und wacht erst im Menschen auf neue Weise wieder auf. Im Stein und in der Pflanze schweigt die Natur. Auch die niederen Tiere, deren inneres Seelenleben noch sehr dumpf ist, etwa die Fische oder die Würmer, sind entweder stumm oder tönen nicht von innen her, sondern erzeugen Geräusche durch äußere Körperorgane, etwa das Zirpen der Grillen, das Summen der Bienen usw.

Höhere Tiere mit ihrem viel reicheren seelischen Erleben tönen von innen heraus und geben dadurch Kunde von ihrer seelischen Lust und ihrem Leid. Sprache im menschlichen Sinn ist es aber niemals.

Die artikulierte Lautsprache des Menschen

Durch die Sprache unterscheidet sich der Mensch vom Tier. Tiere haben keine artikulierte Lautsprache. Verwirrend erscheint es daher, wenn gelegentlich von Tiersprachen geredet wird, etwa von der Bienensprache. Diese ist aber eine komplexe Zeichensprache, nicht eine artikulierte Lautsprache. Auch die Walgesänge sind nicht Sprache in diesem Sinn, sondern eben Gesänge. Mögen sie auch noch so reich und vielfältig sein, bleiben sie doch innerhalb enger artspezifischer Grenzen eingeschlossen. Nicht so die Lautsprache des Menschen. Mit sehr wenigen grundlegenden Lauten, den Vokalen und Konsonanten, erreicht der Mensch durch ihre lebendige immer wechselnde Verbindung eine potentiell unbegrenzte sprachschöpferische Kraft. Die von klein auf erlernte Muttersprache, die Volkssprache, setzt dieser Ausdruckskraft zwar zunächst gewisse Grenzen, aber wir können sie immerhin erweitern, indem wir neue Sprachen lernen und begabte Dichter können den Reichtum ihrer Muttersprache bedeutsam vermehren. Bei den Tieren ist das Lautrepertoire weitgehend angeboren, obwohl es in sehr engen Grenzen variieren kann durch das, was das Tier nachahmend von den Elterntieren erlernt. Beim Menschen hingegen ist eigentlich nur die grundsätzliche Sprechfähigkeit angeboren, während die spezifische menschliche Sprache ganz auf das Erlernen gegründet ist. Das gilt für das einzelne heranwachsende Kind genauso wie für die Menschheit insgesamt. Das darf uns vermuten lassen, dass die menschliche Sprache vielleicht noch lange nicht ihre volle Höhe erreicht hat und es wird am Ende dieses Aufsatzes auch darum gehen, auf die künftig mögliche Sprachentwicklung hinzuweisen.

Körpergestik der Tiere

Tiere haben keine Gestik im menschlichen Sinn, die sich vor allem durch die feinen beseelten Bewegungen der Arme und Hände kundgibt, wohl aber eine sehr ausdrucksvolle Körpergestik, man denke nur an den Katzenbuckel oder das Wedeln des Hundes, wobei die Bewegung sehr wesentlich vom Rückgrat ausgeht – eigentlich wedelt der Schweif mit dem Hund und nicht umgekehrt. Die Bienensprache ist eigentlich ein Tanz, der mit dem ganzen Körper ausgeführt wird, sie ist keine beseelte Sprache im eigentlichen Sinn. Ganz anders die beredte Gestik des Menschen, sie ist geradezu sichtbar gewordene Sprache und mit der Lautsprache aufs engste verwandt.

Drei Fähigkeiten unterscheiden den Menschen wesentlich vom Tier:

Die freie Gestik und auch die Fähigkeit zu sprechen verdankt der Mensch seiner aufrechten Körperhaltung. Insgesamt sind es drei Fähigkeiten, durch die sich der Mensch grundlegend von jedem Tier unterscheidet:

  • Die Aufrichtekraft, die aufrechte Haltung, als Ausdruck des vom Ich ergriffenen Willens.
  • Die Sprache primär als artikulierter und damit vom Ich ergriffener Ausdruck des Gefühls – Tiere hingegen können ihre Emotionen nicht artikulieren.
  • Das Denken als Ausdruck des Ichbewusstseins, durch das der ideelle, d.h. geistige Gehalt der Welt zur Erscheinung gebracht wird.

Diese drei Fähigkeiten können nur im sozialen Zusammenhang erübt werden und sind unerlässlich für das soziale Miteinander. Jede Beeinträchtigung dieser Fähigkeiten beeinträchtigt auch das soziale Leben der Menschen. Gerade die Mitte, in der sich Denken und Wollen im besonnenen, beherrschten Gefühl begegnen, bedarf heute ganz besonderer Pflege. In Freiheit entfalten kann sich das individuelle Ich nur, wenn es sich nicht vom erstorbenen abstrakten Denken einerseits und von der blinden Emotion anderseits beherrschen lässt. Nur in der Mitte reift die Liebe. Erwärmt sie das Denken, wird sie Erkenntniskraft; durchstrahlt sie den Willen, wird sie moralische Tatkraft. Dann ist sie mehr als bloß sentimentales Gefühl oder affektgetriebene Emotion. Sie ist wirkender Geist, aus dem Überfluss seines freien schöpferischen Tuns sich selbst an die Welt verschenkender individueller Geist – das wirkliche Ich.

Der Kosmos der Laute

Die Ursprache der 7 Ur-Vokale ist Ausdruck des Gefühls und die 12 Ur-Konsonanten sind Ausdruck des Willens und des Denkens, des vergeistigten „Begreifens“. Gemeinsam prägen sie der beim Sprechen ausgeatmeten Luft ganz charakteristische Formen ein, die sogenannten Luftlautformen. Das ist nur durch die lebendige Umformung des Resonanzraumes möglich – ein Lautsprecher kann zwar den Klang der Sprache, aber nicht diese Luftlautformen wiedergeben! Was die Seele im Innersten bewegt, drückt sich aber gerade in der Formung, im Wie der Sprache aus – für den, der es zu hören vermag. Demgegenüber ist das Was, der bloße Informationsgehalt der Sprache, nur etwas Äußerliches.

Die Gestik ist mit den Lauten eng verbunden. Die Vokale erscheinen dann als eigentliche Seelengestik, während die Konsonanten mehr äußere Formkräfte beschreiben. Die Lauteurythmie macht diese formbildenden Kräfte sichtbar, sie ist sichtbare Sprache.

Volkssprachen sind Ausdruck einer bestimmten – eingeengten – Weltsicht. Man vergleiche z.B. das deutsche Wort „Baum“ mit dem englischen „tree“ mit ihrer zwar weitgehend gleichen begrifflichen aber ganz unterschiedlichen bildhaften Bedeutung. Die Sprache der Völker hängt mit der Sesshaftigkeit zusammen, mit dem Klima und der heimatlichen Landschaft. Die Volkssprachen bringen zugleich eine gewisse Erstarrung des lebendigen Sprechens, noch mehr dann die Erfindung der Schrift und die Normierung der Schreibweise, die Orthografie.

All das hat seinen unverzichtbaren Wert für die kulturelle Entwicklung der Menschheit gehabt und wird es noch geraume Zeit haben. Es kann aber kaum übersehen werden, dass wir bereits heute in einer Zeit des Niedergangs der Volkssprachen leben. Etwas Neues muss kommen.

Ein Blick auf die künftig mögliche Weiterentwicklung der Sprache

Eine provokante These sei hier zuletzt ausgesprochen: die wahrhaft menschliche Sprache im vollen und ganzen Sinn haben wir noch gar nicht, sie wird erst künftig entstehen! Dem scheint sogleich der lange schon bemerkbare allgemeine Sprachverfall zu widersprechen. Doch was zerfällt, sind – wie angedeutet – nur die begrenzten und begrenzenden Volkssprachen. Sie mögen „göttlichen“ Ursprungs sein, empfangen durch die inspirierende Sprache der Natur– zumindest hat man es früher so aufgefasst. Den alten Indern war das Sanskrit noch ein leuchtender Abglanz der Göttersprache, den Juden war das Hebräische heilig und dem gläubigen Moslem ist es das Arabische noch heute. Das Lateinische und die modernen europäischen Volkssprachen sind demgegenüber schon viel profaner. Wahrhaft menschlich in der vollen Bedeutung des Wortes sind sie allesamt nicht.

Die Volkssprachen werden nach und nach verschwinden, und zwar in dem Maße, in dem sich auch die Grenzen zwischen den Völkern verwischen werden. Wer die menschheitliche Entwicklung mit offenem Blick überschaut, kann nämlich sehen, dass die Trennung in Völker, Stämme und Familien immer mehr an Bedeutung verliert und dafür der einzelne individuelle Mensch immer stärker hervortritt. Die sprachbildende Kraft der Völker ist verödet und die Zukunft wird viel höhere Anforderungen an die individuelle sprachschöpferische Kraft des Menschen stellen und damit zugleich die Fähigkeit erfordern, diese Kräfte der anderen Menschen nachschöpferisch in sich zu erfassen – denn sonst wäre eine Verständigung abseits aller Sprachnormen, die es dann eben nicht mehr geben wird, völlig unmöglich. Einzelne große Dichter haben diese sprachschöpferische Kraft immer schon entfaltet und dadurch zunächst ihre Volkssprache nicht nur bereichert, sondern entscheidend mitgeprägt. In Zukunft kann sie allmählich zu einer individuellen Fähigkeit jedes Menschen werden. Gerade darin wird zugleich einer der wesentlichsten Antriebe für die künftige Entwicklung der Menschheit liegen. Es wird dadurch ein so inniges Band von Mensch zu Mensch geknüpft werden, wie man sich das heute noch kaum vorzustellen vermag. Wie ein winziges keimendes Samenkorn liegt heute noch die eigentlich menschliche Sprache zwischen dem weltenschaffenden Götterwort und dem an die sinnliche Lust und das irdische Leid gebundenen tierischen Laut. Aber dieses Samenkorn wird nicht von selbst zur vollen Blüte reifen und Früchte tragen, sondern nur, wenn der Mensch es aus freiem Willen tätig erstrebt.

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