Wahrnehmen und Denken – Faktoren des Erkennens

Buchbesprechung von 2 Kapiteln aus „Der Philisophie der Freiheit“ von Rudolf Steiner

Text: Norbert Liszt

Unserem Leitthema entsprechend werde ich das 4. Kapitel „Die Welt der Wahrnehmung“¹ und das 5. Kapitel des Buches „Das Erkennen der Welt“² ins Auge fassen.

Bei meiner Beschäftigung mit der Farbenlehre komme nicht an der Frage vorbei, wie ich zu meinen Wahrnehmungen die richtigen Begriffe finden kann. Aus der Beobachtung allein kann ich zu keinem richtigen Urteil kommen. Erst das ideelle Gegenstück, der Begriff, den ich der Beobachtung beifüge, führt auf den Weg der Erkenntnis über die Qualität eines Gegenstandes oder Vorgangs. Die Tätigkeit, die das bewirkt, ist mein Denken. Wahrnehmen und Denken sind die Faktoren, die mir ermöglichen richtig zu urteilen.

Wenn wir einem Ding der Welt, z. B. einem Baum, gegenübertreten, lebt sogleich der Begriff als ideelles Gegenstück zur Erscheinung Baum auf. Die Tätigkeit, die wir dabei vollziehen, bemerken wir gewöhnlich nicht. Diese Tätigkeit ist das Denken. Wir bemerken es oft erst, wenn wir mit einem rätselhaften Ding oder Vorgang konfrontiert werden. Dann tasten wir uns an die Rätselhaftigkeit mit Hilfe unseres Erfahrungsschatzes heran und suchen Begriffe, die uns an ein Verstehen heranführen.

Bewegen wir uns vom Gegenstand unserer Betrachtung weg, bleibt das ideelle Gegenstück zurück. Das in uns verbleibende Gegenstück nennen wir Vorstellung.

Begriffe und Ideen werden also durch das Denken gewonnen. Der Denkakt ist somit Voraussetzung ihres Entstehens.

Daraus folgt: „Das menschliche Bewusstsein ist der Schauplatz, wo Begriff und Beobachtung einander begegnen und wo sie miteinander verknüpft werden. Dadurch ist aber dieses (menschliche) Bewusstsein zugleich charakterisiert. Es ist der Vermittler zwischen Denken und Beobachtung. Insofern der Mensch einen Gegenstand beobachtet, erscheint ihm dieser als gegeben, insofern er denkt, erscheint er sich selbst als tätig. Er betrachtet den Gegenstand als Objekt, sich selbst als das denkende Subjekt. Weil er sein Denken auf die Beobachtung richtet, hat er Bewusstsein von den Objekten; weil er sein Denken auf sich richtet, hat er Bewusstsein seiner selbst oder Selbstbewusstsein. … wenn das Denken den Blick auf seine eigene Tätigkeit richtet, dann hat es seine ureigene Wesenheit, also sein Subjekt, als Objekt zum Gegenstande.“¹

Mit Hilfe des Denkens bestimmen wir uns als Subjekt. „Das Denken ist jenseits von Subjekt und Objekt. Es bildet diese Begriffe ebenso wie alle anderen. … Deshalb darf das Denken niemals als eine bloß subjektive Tätigkeit aufgefasst werden.“¹

Was ist wirklich?

Die Objekte unserer Wahrnehmungen erscheinen uns, unabhängig davon, welchen Ursprung wir ihnen zusprechen, als gegeben. Sie sind das Sich-Zeigende.

Anhänger des naiven Realismus betrachten sie als unmittelbare Realitäten und meinen, dass die Begriffe, die wir ihnen beifügen, nichts mit diesen Objekten zu tun haben. Sie müssen sich aber eingestehen, dass sie zu dieser Ansicht nur mit Hilfe des Denkens kommen. Sie meinen jedoch, was das Denken von den Erscheinungen der Welt entwirft, gehört nicht zu den Dingen, sondern existiert nur in den Köpfen der Menschen. Sie erklären die Welt in allen ihren Erscheinungen und Vorgängen als fertig. Der Mensch erzeugt nur ein gedankliches Abbild von dieser fertigen Welt, was einer Namensgebung gleichkommt. Damit wäre der Begriff nur eine Art Spiegelung der real vorhandenen Wirklichkeit.

Dem gegenüber steht die kantsche Auffassung, dass unsere Wahrnehmungen Resultat der Veränderung in unserem eigenen Selbst sind. Diese Veränderungen sind unsere Vorstellungen und die seien das Einzige, das wir unmittelbar erfahren. Zu den diese Veränderungen veranlassenden „Dingen an sich“ haben wir keinen bewussten Zugang. Folglich können wir nur wissen, was uns unsere Organisation von den Dingen übermittelt. Die Objekte unserer Wahrnehmungen sind somit Modifikationen unserer Organisation (der Sinnesorgane, des Nervensystems, der Seele …), nicht Dinge an sich.

Wer aber so argumentiert, muss sich bewusst sein, dass seine Argumente einem Denkprozess entspringen. „Der erste Schritt, der nun über diesen Standpunkt hinaus unternommen wird, kann nur in der Frage bestehen: wie verhält sich das Denken zur Wahrnehmung? … wenn ich irgendetwas über sie aussagen will, so kann es nur mit Hilfe des Denkens geschehen. … Zwischen die Wahrnehmung und jede Art von Aussage über dieselbe schiebt sich das Denken ein“².

Die Gegenstände treten uns zunächst ohne die entsprechenden Begriffe gegenüber und das liegt nicht an den Gegenständen, sondern an unserer geistigen Organisation. Es hat mit der Art eines Dinges nichts zu tun, wie wir es auffassen. Erst wenn ich den Dingen als Betrachter gegenübertrete, entsteht die Trennung von Wahrnehmung und Begriff. „Unsere totale Wesenheit funktioniert in der Weise, dass ihr bei jedem Dinge der Wirklichkeit von zwei Seiten her die Elemente zufließen, die für die Sache in Betracht kommen: vonseiten des Wahrnehmens und des Denkens“². Wahrnehmungsbild und Begriff sind also den Dingen immanent. Das Objekt unserer Wahrnehmung erscheint uns als gegeben. Es zeigt sich uns in einer bestimmten Form. Der Begriff ist der ideelle Teil des Objekts, der uns nicht zusammen mit der Wahrnehmung zufließt. Diesen müssen wir durch einen Denkakt hinzufügen.

Das Wahrnehmen erfordert Hingabe, das Denken Initiative!

Da wir bei der Beobachtung unsere Aufmerksamkeit auf den Gegenstand richten, haben wir nur den Gegenstand im Bewusstsein, nicht aber zugleich unser Denken. Unbemerkt gesellt sich der durch einen Denkakt hervorgebrachte Begriff zum Gegenstand unserer Betrachtung, wodurch uns erst die Bedeutung des Gegenstandes bewusst wird.

Könnten wir nur wahrnehmen, ohne zu denken, erschiene uns die Welt als eine Vielheit von zusammenhanglosen Einzelheiten, als ein Nebeneinander im Raum und Nacheinander in der Zeit. Kein Gegenstand hätte irgendetwas mit dem anderen zu tun und spielte keine größere oder kleinere Rolle als der andere. Nur durch das Denken können die Fäden von einem Ding zum anderen gezogen werden. Wie ein Ding mit dem anderen zusammenhängt und welche Bedeutung und Wichtigkeit es hat, kann nur durch die Tätigkeit des Denkens bestimmt werden.

Beobachtung und Intuition

Der Wahrnehmungsgehalt kommt uns von außen zu, der Gedankeninhalt von innen. Die Form und die Art, wie dieser Gedankeninhalt erscheint, ist die Intuition. Man kann die Intuition auch als Ideenwahrnehmungsakt bezeichnen. Wie die Beobachtung der sinnliche Wahrnehmungsakt ist, so ist die Intuition der Wahrnehmungsakt, den das Denken schafft. Die Ideen sind die Objekte der Intuition, wie die Sinnendinge die Objekte der Beobachtung sind. Damit sind uns zwei Grundlagen des Erkennens gegeben – die Beobachtung und die Intuition. Die Intuition fügt der Sinneswahrnehmung das ihr fehlende Stück der Wirklichkeit bei. Hätten wir diese Begabung nicht, stünden wir der Welt fremd gegenüber.

„Ein Ding erklären, verständlich machen heißt nichts anderes, als es in den Zusammenhang hineinversetzen, aus dem es durch die oben geschilderte Einrichtung unserer Organisation herausgerissen ist. Ein von dem Weltganzen abgetrenntes Ding gibt es nicht. Alle Sonderung hat bloß subjektive Geltung für unsere Organisation. Für uns legt sich das Weltganze auseinander in: oben und unten, vor und nach, Ursache und Wirkung, Gegenstand und Vorstellung, Stoff und Kraft, Objekt und Subjekt usw. Was uns in der Beobachtung an Einzelheiten gegenübertritt, das verbindet sich durch die zusammenhängende, einheitliche Welt unserer Intuitionen Glied für Glied; und wir fügen durch das Denken alles wieder in eins zusammen, was wir durch das Wahrnehmen getrennt haben. … Die Rätselhaftigkeit eines Gegenstandes liegt in seinem Sonderdasein. Diese ist aber von uns hervorgerufen und kann, innerhalb der Begriffswelt, auch wieder aufgehoben werden.“²

Der Mensch ist ein Freiheitswesen!

Im Vorigen ist ausgedrückt, dass die Dinge der Welt eine gegenständlich-geistige Einheit sind, die für uns in sinnlich-materielles und geistiges Sein auseinanderfällt. Die Faktoren, warum es so ist, sind Raum und Zeit. Die aus geistig-wesenhaften Urformen entstandene Welt zeigt sich uns in sinnlich-materieller Gestalt. Und der Mensch ist dazu veranlagt, Einzelnes aus dem Weltganzen herauszulösen, aber auch dazu das Sondersein der Dinge aus eigener Initiative ins Ganze der Welt wieder einzufügen. In diesen Vorgängen liegt das eigentlich Menschliche, denn in diesen Prozessen erlangt der Mensch die Möglichkeit zur Freiheit. Auf diese Weise kann er sich von naturgesetzlichen Bestimmungen lösen und in die bestehende Weltordnung eingreifen. Indem er aus freier Initiative auf Bestehendes einwirkt, kann er dazu beitragen, dieses weiterzuentwickeln. Er ist damit fähig Neues zu schaffen.

Rudolf Steiner, GA 4, Die Philosophie der Freiheit, TB € 17,30, gebunden € 49,40

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