Das Element Luft und die Chirophonetik

Text: Elisabeth Correa, OÖ, Fotos: Elke Noha, Josef Geisberger

In der Erd- und Menschheitsentwicklung gab es jenen entscheidenden Moment, da der Mensch auf der nun festen Erde stand und zum Luft-Atmer wurde. In der Genesis lesen wir: Gott, der Herr blies dem Menschen den lebendigen Odem in die Nase. Und es wurde der Mensch eine lebendige Seele“ Dazu Rudolf Steiner: „Mit der Fähigkeit des Atmens empfing er eine innere Seele… Denn die Luft ist ein seelisches Element. Der Mensch hat also zu dieser Zeit buchstäblich die göttliche Seele, die ihm vom Himmel zukam, eingeatmet… Die Luft, die wir atmen, ist das körperliche Kleid dieser höheren Seele.“  (Kosmogonie, GA 94, 13. Vortrag).

Auch die menschliche Sprache beruht auf Atmung: Mit der Ausatemluft sprechen wir, bei jeder Einatmung spricht hingegen der Kosmos. Im Gesamtorganismus ist ein kleiner, jedoch wunderbarer Sprachorganismus eingebettet: Ihn durchweht der Atemstrom und wird im Kehlkopf, dank seiner Beweglichkeit in einen Sprachstrom umgewandelt. So geschieht Im Kehlkopf gleichzeitig Empfängnis und Geburt der Laute. Durch die Sprachwerkzeuge im Mundraum erfahren die Laute dann ihre endgültige Gestaltung.

Der Sprachheilpädagoge und Begründer der Chirophonetik, Dr. Alfred Baur erläutert dies in seinem Buch „Lautlehre und Logoswirken“: „Mit jeder Einatmung fließen nämlich geistige Luftwirkungen ein, die den Leib formen… Wenn wir sprechen, dann formen wir die Ausatemluft. Es entstehen Plastiken und Architekturen, welche erklingen und wieder vergehen. Aus dem Studium, wie diese Strömungen verlaufen, entstand die Chirophonetik. Da bei jedem Laut die Atemluft anders strömt, verlangt jeder eine andere charakteristische Strichführung.“ (Alfred Baur: „Chirophonetik – Therapie durch Laut und Berührung“.) Es ist so, dass diese Lautformen von den Händen des Therapeuten auf den menschlichen Leib übertragen werden und gleichzeitig wird der entsprechende Laut ausgesprochen. Das Wort Chirophonetik leitet sich von „Hand“ und „tönen“ ab (griech. „cheir“ und phone). Der Therapeut ist aber keinesfalls der Heiler, sondern nur der Vermittler zwischen dem Laut und dem empfangenden Menschen.

Rudolf Steiner weist darauf hin, dass der Mensch, indem er die Sprache aufnimmt, sie innerlich beinahe gleichzeitig mitspricht. Dabei hat auch wiederum das Luftelement eine gewisse Rolle: Es geschieht durch die Ohrtrompete, die den Nasen-Rachenraum mit der lufterfüllten Paukenhöhle verbindet (Rudolf Steiner, Geistige Zusammenhänge, GA 218).

„Die Ohrtrompete leitet nicht physisch den Schall,“ sagt Alfred Baur in seinem Buch „Lautlehre und Logoswirken“ und führt weiter aus: „Sie bildet lediglich die Leitlinie, längs der die Ätherströme der Sprache laufen. Diese Ätherströme spielen eine wichtige Rolle beim Hören eines anderen und dem Sich-selber-hören. Eigentlich sind die Sprachlaute nicht jene schattenhaften Schemen, wie sie in unser Bewusstsein dringen. Sie sind in der Luft sich fortbewegende Willensintentionen. Wenn ich höre, wie ein anderer spricht, dann dringen Willensintentionen seines Artikulierens in mein Ohr und mein nachahmender Wille kommt dem anderen Willen entgegen und tastet ab, was er draußen tut. Dadurch kann ich vernehmen, was der andere spricht.

Man sollte sich dieses tastende Wahrnehmen nicht als etwas Starres vorstellen. Der menschliche Ätherleib befindet sich dabei in erstaunlichster Beweglichkeit. Er muss die raschen Sprachbewegungen mitmachen. Rudolf Steiner sagt: „In der Ohrtrompete fließt der Wille zum Sprechen.“ (Über Gesundheit und Krankheit, GA 348, 3. Vortrag). Es kann der ruhig lauschende Mensch, innerlich „ätherisch“ mitsprechen und kommt dadurch zu einem Sprachverständnis.

Während einer chirophonetischen Behandlung wird der ganze Mensch hörend und somit zum Empfangsorgan der Sprache.

Rudolf Steiner hat die vier Elemente Erde Wasser, Luft und Wärme den Konsonanten zugeordnet. Dabei stellen wir fest, dass es nur einen einzigen Luft-Laut gib: Das „R“. In der Chirophonetik wird das „R“ angewendet, wo die Zungenspitze einen bestimmten Punkt am vorderen Gaumen berührt und dabei so etwas wie ein federndes Ventil bildet. Der Atemstrom öffnet den Verschluss. Das Hindernis weicht, wodurch der Atemdruck nachlässt, und der Verschluss schließt sich wieder. „Durch dieses rasche Öffnen und Schließen werden kleine Luftkugeln nach außen geschleudert. So wird der Atemstrom unterteilt, wie Perlen an einer Kette… Beobachtet man den Vorgang wie ein „R“ gebildet wird genauer, dann bemerkt man, dass neben den rhythmischen Unterbrechungen des Atemstromes die Stimme durchlaufend tönt. Dieses Verhalten erweist sich sehr ähnlich unserem Bewusstsein. Tagsüber nehmen wir die Gegenstände und Vorgänge unserer Umgebung wahr und bilden uns Vorstellungen, aber nachts verlöscht unser Bewusstsein. Nicht einmal die wichtigste, zentralste Vorstellung, die Ich-Vorstellung, bleibt erhalten. Wir verlieren das Bewusstsein von unserem Ich, obwohl wir erfahrungsgemäß weiterbestehen. Das Wissen von unserem Selbst ist eben nur eine Vorstellung dessen, was wir wirklich sind. Das wirkliche Ich kann während des Schlafes nicht verloren gehen. Jeden Morgen knüpfen wir an bisher Erlebtes wieder an… So findet sich bei dem Vorgang, wenn das „R“ gebildet wird, nicht nur eine Ähnlichkeit, sondern eine echte Metamorphose desselben Vorgangs, der stattfindet beim Schlafen und Wachen. In rhythmischer Folge verdunkelt sich das Bewusstsein und erhellt sich wieder; wie bei der Artikulation des „R“. Aber durchlaufend bleibt uns das Geistes-Ich erhalten, so wie bei dem „R“ die Stimme“ erklärt Alfred Baur.

Durch die rhythmischen Unterbrechungen des tönenden Atemstromes schlüpft etwas Lebendiges in die physikalisch-mechanische Bildung. Das ist der Lichtäther, das geistige Licht; wir können auch sagen, der „Ätherische Bruder“ des Elementes Luft. Er wird dem Patienten durch die Berührung des Therapeuten vermittelt. Da spielt der Tastsinn eine wichtige Rolle. Denn bei der Berührung, die durch die Chirophonetik vollzogen wird, erfährt der Mensch nicht irgendwelche Tasterlebnisse wie rau, glatt, hart oder weich, sondern solche, die innere Lichtspuren hinterlassen. Der Patient gelangt dadurch nicht nur dazu sich selbst zu fühlen, sondern vor allem das Dasein innerhalb der Welt der Laute zu fühlen. Er empfindet: Die Laute sind Realitäten. Sie existieren in mir und außer mir. Damit wird der Patient herangeführt an die Wirklichkeit von Ich und Welt. Er denkt nicht nur diese Wirklichkeit, er erlebt sie.

Bei keinem anderen Laut werden die Lichtätherkräfte so intensiv erfahren als wie beim „Lufterregenden R“.

„Neu an der Idee der Chirophonetik ist der Einbezug der physischen Grundlage der Laute, die Annäherung an die Luftströmungsgestalten jedes einzelnen Konsonanten und Vokals und ihre menschenkundlich-geisteswissenschaftlich begründeten Beziehungen zum Organismus des Menschen. Chirophonetik vermag die Verbindung der Individualität mit dem Leib differenziert zu unterstützen. Vom Kind, vom Jugendlichen oder Erwachsenen, der die Chirophonetik bekommt, wird überhaupt nichts „erwartet“. Man liegt entspannt auf einer Massageliege und kann sich auf die Chirophonetik einlassen. Jedoch darf man sich von der äußeren Passivität nicht täuschen lassen. Innerlich wird der Mensch während der Behandlung, je nach Wahl der angewendeten Laute, in die entsprechende Aktivität gebracht.“ (Aus dem Buch des erfahrenen Chirophonetik-Therapeuten Dieter Schulz: Chirophonetik. Therapie und Berührung. Zum Verständnis der Lauttherapie nach Dr. Alfred Baur.)

Entscheidend für die Entwicklung einer patientenspezifischen Lautreihe ist für den chirophonetisch arbeitenden Therapeuten die persönliche Begegnung mit dem Kind sowie eine umfassende Anamnese und Diagnostik. Eine Besonderheit dieser Therapie ist weiterhin, dass man als Mutter oder Vater dem eigenen Kind chirophonetische Reihen geben kann, nachdem eine gründliche Einweisung durch den Chirophonetik-Therapeuten erfolgte. So kann durch Anwendung der Chirophonetik durch Eltern und Therapeuten die Intensität der Therapie gesteigert werden.

Die Chirophonetik kann bei Sprachstörungen (z. B. Sprach- und Entwicklungsverzögerung, Redeflussstörungen), bei seelischen und psychosomatischen Beschwerden (z. B. Unruhe, Ängste, Aufmerksamkeitsstörungen, Mutismus, Traumata), bei Erschöpfungszuständen, Schlafstörungen, bei Chronischen Erkrankungen (z.B. begleitend bei Asthma, Allergien, Krampfleiden, Autoimmunerkrankungen) und zur Pflege und Betreuung alter Menschen (z. B. Demenz, Wachkoma, Depression) angewendet werden.

Sind Sie an einer berufsbegleitenden Weiterbildung in Chirophonetik interessiert und wollen in den genannten Fällen selbst helfend heilsam wirken? Dann melden Sie sich gern bei

Susanna Proier unter der Telefonnummer 0650/8081005 oder s.proier@eduh.at

Die Luftströmungsgestalt des therapeutisch zu gebenden Lautes wird auf den Rücken, Arme oder Beine übertragen und dazu der Laut gesprochen. Beides zusammen entfaltet heilende Wirkung. Daher kann auch nicht im klassischen Sinne von einer „Massage“ gesprochen werden.

Das Kind nimmt aufmerksam die Berührung wahr. Nicht zu übersehen ist die Wachheit des Kindes.

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