Die Welt im Ich

Text: Norbert Liszt

… Ich trage die Welt
In meinem Schoß,
ich bin ja selber die Welt,
ich wettre in Blitzen,
in Stürmen los
und bin der Gestirne Zelt!
Meine Liebe ist weit
Wie die Seele mein,
alle Dinge ruhen in ihr,
das ganze Weltall
bin ich allein,
und nichts ist außer mir!

Vielleicht empfinden wir unser Ich-Sein so, dass wir uns der Welt gegenüberstehend empfinden und in unserem Erkennen das Gefühl lebt: Da bin ich und mir gegenüber befindet sich die Welt, die ich nur dadurch erkennen kann, dass ich sie – ihr gegenüberstehend – anzuschauen vermag. In Christian Morgensterns Gedicht spricht sich etwas anderes aus: Das Ich, das sich mit der Welt verbunden empfindet, ja, sogar sich als die Welt in sich tragend erlebt. Wie kann es sein, dass diese beiden gegensätzlichen Erfahrungen zusammenkommen? In einem anderen Gedicht gibt uns Morgenstern eine Ahnung von der menschlichen Doppelnatur:

Ich schein ein Doppeltes. Einmal schein ich
Gott selber, mein bewusst in Raum und Zeit;
Zum anderen ringende Persönlichkeit,
ein NurichEines,
nur Problemfürmich.
Als Einzelseele – kämpfend bitterlich
Nach einem Himmel der plejadenweit;

Die Doppelnatur ist also das Problem der ringenden Persönlichkeit. Als ein dem Allsein, dem Himmel, Entstammender musste sich der Mensch aus der Allverbundenheit lossagen und Einzelseele werden. Doch das „Nur-ich-Eines-Sein“ wird ihm zu einem bitterlichen Erlebnis. Die Getrenntheit erlebt so mancher als quälende Einsamkeit und es drängt sich die Frage ins Bewusstsein: „Was bin ich für die Welt?

Ein Wesen, das sich als Ich empfindet, ist sich seiner selbst bewusst und dieses Bewusstsein bedingt, das ein solches Wesen ein Innenleben entwickelt hat und fähig ist, die Außenwelt und ihre Abläufe aufzunehmen und gedanklich zu verarbeiten. Dadurch entsteht im Inneren eine neue Welt – die Welt der Seele. Die Natur bietet zwar die Bausteine für die Seelenwelt-Bildung, doch folgen diese in der Seele anderen Gesetzen.

Es könnte sein, dass die Natur in uns weiterwirkt. Tut sie das nicht, dann muss es etwas geben, das die Naturwirkung daran hindert, sie aufhält und verwandelt. Was uns von außen über die Sinne zukommt wird wie durch einen Spiegel reflektiert, wird zu einem inneren Bild, zu einer Empfindung, einer Vorstellung. Dieser „Vergeistigungsprozess“ erfordert eine Instanz, die Körper und Seele so präpariert, dass eine solche Reflexionsfähigkeit möglich ist. Diese Instanz tut der Seele jedoch nichts Gutes, wenn sie gegen die Umwelt agiert, deshalb will sie sie verstehen und auf diesem Weg auch zu einem Verständnis der eigenen Natur kommen.

Die Umwelt verstehen erfordert, dass man ihr beobachtend gegenübertritt. Beobachtung ist aber nicht möglich, wenn man in den Naturwirkungen drinnensteht und ihnen bedingungslos folgt. Soll das Anschauen der Weltnatur fruchtbar werden, muss sich die besagte Instanz, unser Ich, über die Gesetze der Natur erheben und in der Seelenwelt neue Gesetzlichkeiten bilden. Diese Selbstverpflichtung und innere Wertebildung nennen wir Vernunft.

Christian Morgensterns geniale Wortkunst bringt das folgendermaßen zum Ausdruck:

O schwärme, schwärme, Liebe,
nach jeder Erdenfreude ernstbeflügelt!
Nur eins verliere nicht:
den roten Faden deiner tiefsten Pflicht.
Der aber ist:
Dich selber zu entdecken
und dann dich selber nach dir selbst
zu strecken.

Bewusstwerdung bedeutet also, zur Umwelt auf Distanz zu gehen, sein Innenleben auszubauen und es nach außen abzugrenzen. Wir sind dann mit unserer inneren Welt allein und die Außenwelt wird uns fremd. Sie wird uns zu einem Rätsel. Doch auch wir selbst sind uns dann ein Rätsel und das Verlangen nach Selbstentdeckung konfrontiert uns mit der Frage, was wir selber sind und ob es einmal möglich sein wird, welteinig zu werden.

Wenn die Einzelseele wie in Morgensterns Gedicht fragend wird, regt sich der Wille das Rätsel des Alleinseins aufzulösen. Es beginnt das All-Eine in ihr zu sprechen, das sie ahnen lässt: „Ich trage die Welt in meinem Schoß, noch fühle ich mich als Einzelseele, doch meine jetzt noch schwache Liebe kann sich weiten, sodass alle Dinge in ihr ruhen können.“ Die Seele erinnert sich an ihre hohe Herkunft, an den Himmel, der plejadenweit.

Auszüge aus Gedichten und Sprüchen von Christian Morgenstern, „Eins und Alles“, „Ich schein ein Doppeltes“, „Dich selber nach dir selbst“.

Christian Morgenstern (* 6. Mai 1871 in München; † 31. März 1914 in Untermais bei Meran, Tirol, Österreich-Ungarn). Sein Geburtstag jährte sich also zum 150. Mal. Die Suche nach einem günstigen Klima für sein schweres Lungenleiden, das schließlich zu seinem frühen Tod führte, veranlasste ihn zu einem stetigen Reiseleben. Seine Werke zeugen davon, dass er trotz seines Viel-Unterwegsseins ganz bei sich zuhause sein konnte und gleichzeitig fähig war sich in die Innenwelt seiner Mitmenschen einzufühlen. Mit dieser Haltung und seiner außergewöhnlichen Sprachkunst nimmt er unser Denken und Fühlen in seelische Tiefen und kosmische Höhen mit. Dabei versteht er es mit Worten zu spielen und ihnen eine zarte Leichtigkeit zu geben. Seine aus tiefer Empfindung reifenden Gedichte und Sprüche bringen das Gemüt in Bewegung. Er war in der Lage, mit Humor, aber auch mit tiefem Ernst einen ganzen Kosmos menschlicher Seelenregungen zu vermitteln und dieser Kosmos wird uns so nahegebracht, dass es wie ein Therapeutikum wirkt.

Die vollständigen oben genannten Gedichte:

Eins und Alles
Meine Liebe ist groß
wie die weite Welt,
und nichts ist außer ihr,
wie die Sonne alles
erwärmt, erhellt,
so tut sie der Welt von mir.

Da ist kein Gras,
da ist kein Stein,
darin meine Liebe nicht wär,
da ist kein Lüftlein
och Wässerlein,
darin sie nicht zög einher!

Da ist kein Tier
vom Mückchen an
bis zu uns Menschen empor,
darin mein Herze
nicht wohnen kann,
daran ich es nicht verlor!

Ich trage die Welt
in meinem Schoß,
ich bin ja selber die Welt,
ich wettre in Blitzen,
in Stürmen los
und bin der Gestirne Zelt!

Meine Liebe ist weit
wie die Seele mein,
alle Dinge ruhen in ihr,
das ganze Weltall
bin ich allein,
und nichts ist außer mir!

Ich schein ein Doppeltes

Ich schein ein Doppeltes. Einmal schein ich
Gott selber, Mein bewusst in Raum und Zeit;
zum andern ringende Persönlichkeit,
ein Nur-ich-Eines, nur Problem-für-mich.

Als Einzelseele – kämpfend bitterlich
nach einem Himmel, der plejadenweit;
als Allgeist über meinem eignen Streit
ruhend, dem Aar gleich, der zur Wolke wich.

Bin ich so Vater denn und Kind zumal?
Bin Gott und muss mich doch er-ringen erst?
Bin Gott und nicht Gott, Gottesbildstoff bloß?

– „Du und der Vater -“ … ja, du hellster Strahl,
ich kenne, ich erlebte, was du lehrst;
und doch – dies ist nur Ruh‘n in einem Schoß …

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