Phänomenologische Naturwissenschaft

Text: Holger Finke; Rudolf Steiner Schule Wien-Mauer, Zentrum für Kultur und Pädagogik, Wien, An-Institut der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter

„Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt.“

Mit dieser Sentenz machte Goethe seine Position in der Streitfrage deutlich, wem mehr zu misstrauen sei, der menschlichen Wahrnehmung oder dem, was wir aus der Wahrnehmung machen, also bestimmten Aktionen des menschlichen Verstandes. Im weiteren Verlauf dieses Artikels wird deutlich werden, gegen welche Aktionen im naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess sich sein Misstrauen richtete. Es ist bekannt, dass Goethe sich damit in Opposition zu derjenigen positivistisch orientierten Wissenschaft begab, die bis heute die anerkannte und verbreitete ist. Im Folgenden nenne ich diesen Typus von Wissenschaft den konventionellen in Abgrenzung zum phänomenologischen. Eine Wertung ist mit dieser Wahl der Bezeichnung nicht verbunden. Unter phänomenologischer Naturwissenschaft verstehe ich jenen alternativen Wissenschaftsentwurf, der auf den Arbeiten Goethes und in der Folge Rudolf Steiners fußt.

     Der konventionellen wie der phänomenologischen Naturwissenschaft ist gemeinsam, dass das Phänomen beziehungsweise das Experiment am Anfang steht. Beide nehmen es sehr ernst und arbeiten auf diesem Gebiet mit hoher Gründlichkeit. Erst im Setzen der nächsten Schritte tritt der Unterschied zwischen beiden Richtungen in Erscheinung. Ein einfaches Beispiel: Man lässt trockenen Sand auf eine Oberfläche rieseln und beobachtet, wie sich der Sand zu einem kleinen Berg anhäuft. Dann gießt man Wasser auf eine Oberfläche und beobachtet, wie sich das Wasser ohne Höhenunterschiede ausbreitet. Nun geht es darum, das unterschiedliche Verhalten von Festkörpern und Flüssigkeiten herauszuarbeiten. Konventionelle Naturwissenschaft erklärt das gleichmäßige Sichausbreiten des Wassers, indem sie sagt: Das Wasser bestünde wie der Sand aus kleinen Teilchen, nur dass diese Teilchen bei Flüssigkeiten leichter gegeneinander verschiebbar seien als bei Festkörpern. Daher rutschten alle Teilchen auf die gleiche Höhenlage ab. Phänomenologische Naturwissenschaft hingegen würde lediglich eine Formulierung wie diese wählen: Die Qualität von Flüssigkeiten liegt darin, tiefste Lagen einnehmen zu können. Darum bilden sie waagerechte Oberflächen. Es wurde deutlich, dass die konventionelle Naturwissenschaft im Augenblick der Erklärung des Phänomens zum Phänomen etwas hinzufügte, nämlich die Teilchen, bei denen es sich ausschließlich um eine Konstruktion des menschlichen Verstandes handelt. Gerade in Hinzufügungen dieser Art sah Goethe die Gefahr, sich dem Phänomen in Wahrheit nicht anzunähern, sondern sich von ihm zu entfernen. Mithin entferne und entfremde man sich nicht nur von den Phänomenen, sondern von der Natur im Ganzen, da diese ja durch die Phänomene spricht. Goethe vermied es daher, Fremdes dem Phänomen zu unterlegen, vielmehr suchte er alle Erklärungen strikt in der Dimension des Phänomens selbst.

     Die Wasserteilchen, welche die konventionelle Naturwissenschaft postulierte, sind ein Beispiel für ein Modell. Als Modelle werden die Erfindungen des menschlichen Verstandes bezeichnet, die zum Zweck der Deutung auf die Phänomene projiziert werden. Natürlich gibt es einen Grund, warum konventionelle Naturwissenschaft so schnell und bereitwillig mit Modellen arbeitet. Modelle sind Bausteine zu Systemen, die Berechnungen ermöglichen. Die Wasserteilchen, vorgestellt als kleine Kugeln, folgen beispielsweise den Gesetzen der klassischen Mechanik, womit sich ein weites Feld der Berechenbarkeit und rationalen Kontrolle auftut. Auf diesem Wege war es der konventionellen Naturwissenschaft vielfach erst möglich, ihre ungeheuren Leistungen zu vollbringen. Die fulminanten technischen Errungenschaften, ohne die unser Leben nicht mehr vorstellbar ist, gehen auf die Arbeit mit Modellen und einer dazu kompatiblen Mathematik zurück. Allein dies schafft genügend Legitimation für die gewählte Vorgangsweise. Man stelle sich nur einmal den nächsten Besuch beim Zahn- oder Augenarzt ohne das dortige technische Equipment vor.

     Freilich sind die Verhältnisse nicht ganz so einfach, wie es beim Lesen des vorangegangenen Absatzes anklingen mag. Was als konventionelle Naturwissenschaft bezeichnet wurde, ist in sich keineswegs so geschlossen und widerspruchsfrei, wie es der Laie annimmt. Das Modell der Wasserteilchen ist nur dann zulässig, wenn man in den Bahnen der klassischen Physik denkt, die unsere Alltagsprozesse vordergründig recht gut im Griff hat. Begibt man sich aber ganz auf die Höhe der modernen Physik und betrachtet man die Zustände aus quantenmechanischer Sicht, so verlieren die Wasserteilchen ihre Existenzgrundlage. Bei ständig fortschreitender Aufspaltung der Materie verschwindet die Materie. Materie sei zu guter Letzt nicht aus Materie aufgebaut und auch nicht aus dieser entstanden, so lauten die aktuellen Erkenntnisse. Eine Infragestellung, wenn nicht gar Verabschiedung der Wasserteilchen, wie sie die Quantenmechanik nahelegt, führt schließlich in die Nähe von Formulierungen wie sie die phänomenologische Naturwissenschaft wählte und setzt Assoziationen an eines der großen Weisheitsbücher der Menschheit frei. Im 8. Abschnitt des Tao te king des Laotse heißt es:

„Höchste Güte ist wie das Wasser.

Gut tut es den Dingen und streitet mit keinem.

Das Niedrigste, das alle Menschen verachten, füllt es.

So gleicht es dem Tao.“

Dieses Bild ist einfach und wunderbar zugleich. Einfach, weil Laotse das Wasser Wasser sein lässt, er fügt nichts (keine Modelle) hinzu. Er bleibt damit in der Dimension des Wassers selbst. Wunderbar, weil er dadurch das Wesen, wir sagen heute eher die Qualität des Wassers, mit so viel Tiefe erfasst. Der Geheime Rat notierte:

„Das Höchste wäre zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist. … Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.“

Eine differenzierte Arbeit mit Modellen, wie es die konventionelle Naturwissenschaft betreibt, bringt es mit sich, dass man das betrachtete Phänomen aus seiner Umgebung herauslösen muss, schon deshalb, um die Anzahl der einflussnehmenden Parameter klein zu halten. Konventionelle Naturwissenschaft hat daher prinzipiell einen Partialcharakter. Methodisch bedingt kann sie die Natur nicht in ihrer hohen Komplexität und Vernetztheit sehen, sondern immer nur Teilbereiche unter bewusster Ausgrenzung der Nachbarschaften.

     Diametral dazu verhält sich der phänomenologische Ansatz. Durch den Verzicht auf Modelle entfällt die Notwendigkeit des Isolierens. Dadurch kann sie es sich leisten, größere Bereiche ins Auge zu fassen. Sie muss nichts einengen, nichts weglassen, nicht auf das eine oder andere stärker fokussieren. Sie beobachtet Phänomene in einem möglichst weiten Umfeld und verspricht sich davon einen Erkenntnisgewinn. Dieses macht sie zu einer ganzheitlich orientierten Wissenschaft. Beispiel: In Kapitel V, Abschnitt 49 der ersten Abteilung seines opus magnum Farbenlehre schreibt Goethe:

„Man halte ein kleines Stück lebhaft farbigen Papiers oder seidnen Zeuges vor eine mäßig erleuchtete weiße Tafel, schaue unverwandt auf die kleine farbige Fläche und hebe sie, ohne das Auge zu verrücken, nach einiger Zeit hinweg, so wird das Spektrum einer andern Farbe auf der weißen Tafel zu sehen sein. Man kann auch das farbige Papier an seinem Orte lassen und mit dem Auge auf einen andern Fleck der weißen Tafel hinblicken, so wird jene farbige Erscheinung sich auch dort sehen lassen; denn sie entspringt aus einem Bilde, das nunmehr dem Auge angehört.“

Unter gewissen Bedingungen sehen wir nicht nur das Objekt in seiner originalen Farbigkeit, sondern wir sehen es umrisshaft in seinen Komplementärfarben. Mit diesem Versuch, der in der Farbenlehre unter dem Titel farbige Bilder angeführt ist, machte Goethe als erster auf die Eigendynamik des Subjekts beim Sehvorgang aufmerksam. Bis dahin hielt man das Auge für passiv, einer camera obscura vergleichbar, in welche die Gegenstände der Welt projiziert werden. Anhand der farbigen Schatten (siehe entsprechender Artikel in dieser Ausgabe) zeigte er weiterhin, dass dasjenige, was wir sehen, nicht nur von dem Objekt – und wie wir inzwischen wissen vom Subjekt – bestimmt wird, sondern auch von der Umgebung, in der das Objekt sich befindet. Er entdeckte die Trias Subjekt, Objekt, Umgebung, die subtil zusammenspielt und unseren Seheindruck bildet.

     Ein Artikel über Naturwissenschaft erfordert an geeigneter Stelle ein kurzes Innehalten und Nachdenken darüber, wie der Naturbegriff gefasst werden kann. Ich möchte diesen Begriff wie folgt verstehen: Was wir Natur nennen, hat keine definierten Konturen. Natur existiert nicht als abgegrenzte Einheit, sondern ist ein unauflösbarer Teil eines Größeren. Als dieses Größere ist mindestens das Gesamtsystem Planet Erde einschließlich des erdnahen Universums anzusprechen. Natur fließt oder zerfließt darin.

     Aus diesem Kontinuum erreichen uns seit geraumer Zeit Hinweise, dass wir seit langem – das meint seit einigen Jahrhunderten – in problematischer Weise mit der Natur umgehen. Die Erde zeigt sich uns mit stark reduzierten Ressourcen und einer verletzten Hülle. Gleichgewichte sind empfindlich gestört. Wegen vielfältiger Wechselwirkungen kommen die erwähnten Hinweise nicht nur aus der ökologischen Sphäre in Form der lokalen und globalen Umweltschäden, sondern auch aus der sozialen, wirtschaftlichen und politischen. Gerne wird hierfür die konventionelle Naturwissenschaft verantwortlich gemacht, denn sie sei es ja, die mit ihren Modellen die Grundlage zur Funktionalisierung und damit zur Ausbeutung der Natur mit all den weitreichenden Folgen lege.

     Tatsächlich ist konventionelle Naturwissenschaft technikaffin und Technik ist ein ebenso wirkungsvoller wie einseitiger Zugang zur Welt. Konventionelle Naturwissenschaft, falsch angewendet, hat ein Zerstörungspotential, wie es phänomenologische Naturwissenschaft nicht kennt. Letztere verweilt im Vorhof der Gefahr, da sie ihre Intentionen auf das Erkennen bündelt und sich oft darin erschöpft. Und auch dann, wenn sie von Steiner impulsiert, das Feld der Anwendungen betritt, wie in der Pharmazie oder der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, so entfacht sie doch niemals einen Herd von Gefahren wie die konventionelle Naturwissenschaft, da sie die Verträglichkeit im Ganzen von vornherein zu ihrer Maxime erhebt. Gerne wird auf Goethe als ihren Begründer verwiesen, dem es um Naturerkenntnis, nicht aber um das Verfügbarmachen von Natur ging. Zu bedenken ist, dass dieses auch auf eine Reihe bedeutender Wissenschaftler der konventionellen Linie zutrifft. Man denke nur an einen Vertreter der älteren Physik wie Johannes Kepler oder an Vertreter der neueren wie Max Planck, Niels Bohr, Albert Einstein oder Werner Heisenberg. Zu bedenken ist ferner, dass Goethe getreu seines Diktums „Ich beschränke mich auf Alles“ viele Naturen in sich trug. Als Bergwerksdirektor, der er unter anderem war, verbot er keineswegs den Einsatz und die Verbesserung von Maschinen, womit er sich auf die andere Seite, die der Technologie, stellte. Die Neigung zum Gebrauch von Kräften und Dingen scheint dem Menschen eigen, die Erfindung des ersten Faustkeils zeugt davon. Technische Anwendungen differenzieren sich in Gebrauch und Missbrauch, wobei es von der Warte abhängt, wo die Grenze gezogen wird. Das Spannungsfeld, in dem man sich hier bewegt, ist uralt, man kann es nicht umgehen, man kann sich nur in ihm bewähren. Eine Instanz muss hinzutreten, die als Richtkraft fungiert. Ein altes Wort dafür, inzwischen mit Patina besetzt, ist Gewissen, ein mehr im Zeitstrom liegendes ist Verantwortung. Wer konventionelle Naturwissenschaft betreibt – und dies ist genauso eine Variante im Sinne einer conditio humana wie das reine Erkenntnisstreben der phänomenologischen Naturwissenschaft – muss jene Instanz kennen.

     Waldorfpädagogik sollte nicht den einen Typus gegen den anderen ausspielen beziehungsweise zwischen „schlechter“ und „guter“ Naturwissenschaft unterscheiden. Eine solche Unterscheidung käme einem Verharren in überholten Feindbildern gleich. Komplementarität, ein Lösungsansatz, der von Niels Bohr im Falle von Konfliktlagen gedacht wurde, ist um Vieles einsichtiger, kreativer und zeitgemäßer. Waldorfpädagogik sollte unter Anerkennung beider Konzepte Kompetenz zu einer bewussten und verantwortungsvollen Handhabung anlegen. Dazu gehört die Entwicklung einer weitgreifenden Reflexionsfähigkeit, welche die Bereiche Erkenntnistheorie und Ethik einschließt. Die Komplementarität à la Bohr könnte dergestalt zum Tragen kommen, dass die phänomenologische Naturwissenschaft da, wo sie den Zirkel des Erkennens nicht verlässt, der Kunst gleichgesetzt wird, von der es heißt, sie sei nutz-, aber nicht sinnlos. Wie diese fügt sie unserer Existenz etwas Wesentliches hinzu, weshalb ihr Würdigung und Pflege gebührt. Da, wo sie zu Anwendungen führt, wäre zu prüfen, ob nicht viel stärker als bisher angestrebt eine teils systemische, teils individuelle Kooperation mit der konventionellen Naturwissenschaft möglich und fruchtbar wäre, selbstverständlich im unverzichtbaren Bemühen um Verantwortung in globaler Dimension.

     Mit Einsetzen des naturwissenschaftlichen Unterrichts ab der 6. Klasse – das heißt die Schüler sind 12 Jahre alt – wird an Waldorfschulen phänomenologische Naturwissenschaft gelehrt mit dem Ziel, ganzheitliche Blickweisen zu erüben. Waldorfschulärzte weisen auf salutogenetische Zusammenhänge hin: Holistik fördere den sich aufbauenden Leib des jungen Menschen, besonders bis zum 14. Lebensjahr, stärker als Parzellierung. Wenn die Schüler ein Alter erreicht haben, um die angewandten Methoden reflektieren und Handlungen bewusst setzen zu können, treten die Modelle der konventionellen Naturwissenschaft ergänzend hinzu. Dies ist in der Regel in der 11./12. Klasse der Fall. Thema der 10. Klasse ist die von Galilei entwickelte und von Newton ausgebaute Mechanik der bewegten Körper einschließlich der zugehörigen Mathematik. Diese Mathematik ist nicht über die Vermittlung eines Modells entstanden, da die untersuchten Körper, seien es fallende Äpfel oder Planeten, tatsächlich als greifbare Körper im Raum existieren. Es muss eingeräumt werden, dass die Körper zu Kugeln mit der Gesamtmasse im Mittelpunkt idealisiert werden. Doch ist dies eine Idealisierung und noch keine Dimensionsverschiebung kraft eines Modells. Letzteres liegt nach phänomenologischer Auffassung vor, wenn man Lichtteilchen, die nur im Modell, nicht aber in der Realität vorliegen, mit Newtonscher oder relativistischer Mechanik berechnet.

     Phänomenologische Naturwissenschaft folgt einer von Goethe ausgearbeiteten sehr strengen Methodik. Sie stellt den Forscher als Verantwortungsträger zentral in den Prozess hinein und ist um einen ständig sich verfeinernden Dialog mit der Natur auf Augenhöhe bemüht. Die Verantwortung bezieht sich hier nicht auf die Unterscheidung zwischen Gebrauch und Missbrauch technischer Anwendungen, sondern auf die Reinheit der Prozessführung im Dienste einer unverfälschten Naturerkenntnis.

Eine ausführliche Beschreibung ihres Aufbaus, der zu setzenden Schritte und der Hintergründe findet sich bei: Finke, H.: Die Goetheanistische Methode und ihre Anwendung im Unterricht der Waldorfschule, in Weiss, L. & Willmann, C. (Hg): Grundlagen, Methoden und Gestalt der Waldorfschule, Wien 2016: Lit Verlag.

 

 

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