Wissenschaft – ein Begriff im Wandel

Text: Gerhard Klünger.

Rudolf Steiner gab seinem Werk „Philosophie der Freiheit” (GA 4) den zweiten Untertitel: „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode”. Daran
knüpfen sich zwanglos hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit folgende Fragen: a) was ist
die naturwissenschaftliche Methode? b) was ist Wissenschaft? c) Warum ist Steiner der
wissenschaftliche Anspruch wichtig?

Der Mitbegründer der abendländischen Naturwissenschaft, Galileio Galilei (1564 – 1642), forderte für die Wissenschaft die Beobachtung und das Experiment. In seiner Tradition lag die Überzeugung, dass das Buch der Natur in Mathematik geschrieben sei. So sollte alles, was messbar ist, gemessen werden, und was nicht messbar ist, messbar gemacht werden.[i] René Descartes (1596 – 1650) forderte: Nichts für wahr halten, was nicht so klar und deutlich erkannt ist, dass es nicht in Zweifel gezogen werden kann; schwierige Probleme in Teilschritten erledigen; vom Einfachen zum Schwierigen fortschreiten; und „Rekursion“: stets prüfen, ob bei der Untersuchung Vollständigkeit erreicht ist.[ii] Sieht man von der Forderung nach Messbarkeit und Berechenbarkeit ab, so wird hier nicht nur die naturwissenschaftliche, sondern die wissenschaftliche Methode überhaupt beschrieben. Die Forderung nach dem Experiment scheint erfüllt, wenn man auch seelische Beobachtungen unter verschiedenen Gesichtspunkten oder „Gedankenexperimente“ zulässt, allerdings entstehen hier Probleme hinsichtlich der Intersubjektivität: Zum Unterschied zu „normalen“ Sinnesbeobachtungen, bei der die äußeren Objekte von jedem beobachtet werden können, ist das bei inneren Erlebnissen im Allgemeinen nicht möglich. Hinsichtlich „Anthroposophie“ führte Steiner aus: „Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt …“ (GA 35, S. 66). Anthroposophie gehört somit nicht zur Naturwissenschaft – von dort stammt lediglich die Methode zur Gewinnung der seelischen Beobachtungsresultate –, sondern zur Geisteswissenschaft; wörtlich spricht Steiner von „anthroposophischer Geisteswissenschaft“ (GA 73a, S. 374), wobei „Psychologie, Volkskunde und Geschichte … die hauptsächlichsten Formen der Geisteswissenschaft“ sind (GA 2, S. 128). Bei der Geisteswissenschaft „… hat es unser Bewusstsein mit geistigem Inhalte selbst zu tun: mit dem einzelnen Menschengeist, mit den Schöpfungen der Kultur, der Literatur, mit den aufeinanderfolgenden wissenschaftlichen Überzeugungen, mit den Schöpfungen der Kunst. Geistiges wird durch den Geist erfasst“ (GA 2, S. 115f). Hinsichtlich der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft ist er „…der Ansicht, dass diese Geisteswissenschaft eine Naturwissenschaft voraussetzt, die der Goetheschen entspricht“ (GA 6, S. 212). Somit ist der Verweis auf die naturwissenschaftliche Methode im Untertitel der Philosophie der Freiheit nicht als Verweis auf Galileis mathematischen Reduktionismus zu verstehen.

Goethe selbst bewunderte Mathematik und strebte eine Wissenschaft an, die in ihrer Methodologie so exakt wie Mathematik ist.[iii] Aber er hatte klare Vorstellungen, wann Mathematik nützlich ist und wann nicht. Mathematik hat mit Zahlen zu tun, und Zahlen beziehen sich auf Größen. Goethe stellte fest, dass kein Objekt nur durch „Größe“ definiert ist. Würde man einzig die mathematische Methode anwenden, gingen alle Qualitäten mit Ausnahme der Größe verloren. Vom Objekt bliebe nur eine Abstraktion übrig. Nach Goethe „… müsse sich die mathematische Behandlung und die rein auf das Qualitative ausgehende in die Hände arbeiten; sie werden sich am Dinge, von dem sie jede eine Seite erfassen, begegnen.“ Daher ist auch die Beschäftigung mit Physik auch ohne Mathematik möglich, wenn man sich auf das Qualitative beschränkt (GA 1, S. 240f). Das wirft aber wiederum die Frage auf, ob es sich bei einer nur qualitativen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Objekt um Naturwissenschaft handelt. Wer entscheidet, was Wissenschaft ist, und was nicht?

Seit Galilei und dem Erstarken der Naturwissenschaften, den bahnbrechenden Entwürfen von Isaak Newton (1643 – 1727), sowie Immanuel Kants (1724 – 1804) implizit geäußerter Überzeugung, es könne keine andere Physik geben als jene Newtons[iv], hatte sich die Überzeugung herausgebildet, Wissenschaft sei ein Garant für „wahre Erkenntnis“ im Vergleich zu den dogmatischen Wahrheiten der Kirche. Seit den Entdeckungen Albert Einsteins (1879 – 1955) sowie der Quantenphysik kam der Begriff „Wissenschaft“ unter Druck. Im „Wiener Kreis“ kamen Forscher zusammen, denen es zum Problem geworden war, wieso die Newtonsche Physik, die doch so überzeugend war, hatte widerlegt werden können. Es gelangt jedoch nicht, Regeln und Methoden zu finden, mit denen garantiert werden konnte, die – immer schon als unabhängig vom Menschen vorausgesetzte – Wirklichkeit zu erkennen. Zwei Jahrhunderte vorher hatte Kant bereits die Unerkennbarkeit des „Dings an sich“ behauptet. Wissenschaft verlor den Anspruch, die „Wahrheit“ zu finden bzw. die „Wirklichkeit“ zu erkennen. Naturgesetze würden nicht „gefunden“, sondern „erfunden“. Beschreibt eine Theorie gut die empirischen Daten und ermöglicht sie Vorhersagen, so ist das kein Beweis dafür, dass sie die „Wirklichkeit“ richtig abbildet. Schon morgen könnte sie falsifiziert sein, was in dem Satz „Wer ewige Wahrheiten sucht, der muss sich eine Ideologie suchen; in der Wissenschaft ist er fehl am Platz“[v] zum Ausdruck kommt.

Andererseits war jedem der Wert der abendländischen Wissenschaft bewusst. Es wurde darauf verzichtet, eine Definition zu geben, was Wissenschaft ist und was nicht: das sollten die Wissenschaftler und die gesellschaftlichen Kräfte autonom entscheiden (dadurch hatten beispielsweise Fächer wie Theologie weiterhin ihre Existenzberechtigung an den Universitäten). Daneben wurden aber doch einige Minimal-Anfordergen an jede wissenschaftliche Fachdisziplin gestellt: Es muss empirische Befunde irgendeiner Art geben, die intersubjektiv zugänglich sind; es muss eine Argumentationsstruktur geben, warum man etwas für wahr hält; es muss systematisch und logisch aufgebaut sein; es muss lehrbar sein; es muss hinterfragt werden können („Wo der Schüler keine Einwände vorbringen kann, das ist sicher keine Wissenschaft“[vi]).

[i] http://www.bk-luebeck.eu/zitate-galilei.html (2017-09-08).

[ii] https://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Descartes  (2017-09-08).

[iii] Goethe, Natw. Schr., 2. Bd., S. 19, 45.

[iv] Kant, 1755, Zusammenfassung zum achten Hauptstück der „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“.

[v] Friedrich Wallner, zitiert in G. Klünger (2011), Wörterbuch des Konstruktiven Realismus, Frankfurt: Peter Lang, 2011, S. 1.

[vi] Friedrich Wallner, Professor für Wissenschaftstheorie; pers. Mitteilung 2017-08-03.

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