Von einem Baum, der fast schon vergessen ist

Text: Christine Cologna und Ute Golth; Zeichnung: Ute Golth, Vesna Zakonjsek

Vor nunmehr 70 Jahren – da gab es noch in Holland herrliche Alleen von Bäumen, die entlang der Straßen den Umkreis mit Schwung und Anmut durchwirkten, wenn ein Lufthauch mit den Zweigen und Blättern in den Kronen spielte. Ein Bild gemeinsamen Wogens ersteht im Inneren, wenn Frits Julius seine Erinnerung an so ein Schauspiel beschreibt* …. Doch ist diese Freude lange schon vorbei. Solche Alleen gibt es nicht mehr.

Wer kennt sie noch, diese vormals die Landschaft bewegende und prägende Baumart?! Stark ist ihr
Holz: rüstig – deshalb wurde es im Holzbau, in der Zimmerei, für die tragenden Balken eingesetzt.
Aufwärts strebend, hoheitsvoll in den Luftkreis hinauf wächst der Stamm empor und bilden sich
dabei geschmeidig Äste heraus, die wie Seitenarme eines Flusses nun dem Lauf des Stammes folgen,
so wie Wasserströme fließend sich teilen. Auch die Rinde kündet in ihrer Maserung von diesem
Strömen gen Himmel hinan. Im Holz bildet es sich ab, so dass seine schöne Zeichnung im Möbelbau
zur Geltung kommt.

Ein wunderbarer Rhythmus von links und rechts waltet in der eher flächigen Anordnung des
Gezweiges, so dass mancher Blick, vom Boden in die üppige Krone hinein getan, mitunter lebendig
ordnend auf den Betrachter zurück wirkt. Die Blätter aber dieses besonderen Baumes verhalten sich
in unnachahmlich und unverkennbarer Weise: die eine Seite buchtet weit aus, als wolle sie die Weite
des Himmels aufsuchen, während die andere Seite sich bescheiden zusammen zieht – und doch !
finden beide Hälften einander in der Blattspitze.

Nun hat der werte Leser sicher schon erraten, um welchen Baum es geht: Die Ulme.
Wie macht es so ein Ulmenblatt, dass es solche Gegensätze mit einander verbindet? Wie schafft es
diesen Ausgleich? Welche Kräfte veranlassen es dazu?
Für den Bildhauer ist so ein Blatt eine Freude: es ist in sich gebogen, manchmal sogar mit spiraliger
Tendenz gedreht. Dafür formt es den asymmetrischen Blattansatz, der die beiden Blattseiten nicht
parallel, sondern in unterschiedlicher Höhe am Stängel entlässt!

In vielfacher Weise spricht sich hier der Impulsgeber für das Sein dieses Baumes aus: es ist die
Merkurkraft, die solches bewirkt. Am Himmel sehen wir den schnellen, stark dynamischen Planeten,
mit dem raschen Bewegungsrhythmus in Bezug auf die Sonne. Ein Bild für diese Kräfte findet sich im
römischen Gott Mercurius. Er galt als der Schutzpatron der Händler wie der Diebe. Oft wird er mit
geflügeltem Helm und geflügelten Füßen dargestellt um seine flinke Wendigkeit zu betonen.
So eilig hat es auch unser Baum im zeitigen Frühjahr, der, noch bevor er seine Blätter treibt, bereits
winzige rötliche Büschel hervorbringt. Nach der Bestäubung durch den Wind vollzieht sich ein wahres
Wunder am Baum: Noch gerade konnte der Betrachter staunen über die zarten Gebilde, schon – fast
wie über Nacht – zeigen sich an ihrer Stelle ganz andere Formen! Es sind nun kleine hellgrün-
durchsichtige Blätter, in deren Mitte sich etwas punktförmig entwickelt. Alles drängt sich dicht
beisammen und wird schnell größer. Sind das die Baumblätter?
Nein – dieser Merkurbaum treibt Früchte! zu einer Zeit im Jahr, in der andere Bäume noch schlafen –
und hüllt die Samen grünblättrig ein. Erst nachdem er das Fruchten durchgemacht hat, kommen die
eigentlichen Blätter.
Die ULME (lateinisch Ulmus), im deutschsprachigen Raum auch RÜSTER genannt, gehört zu den
selten gewordenen Baumarten. Seit den 1920er Jahren wurde sie Opfer verschiedener Wellen des
Ulmensterbens. Verursacht durch einen eingeschleppten asiatischen Pilz (Ophiostoma ulmi und
Ophiostoma novo ulmi), der vom Ulmensplintkäfer übertragen wird, erkrankt der Baum, indem die
wasserführenden Holzstrukturen verklebt werden. So stirbt er schließlich ab.
Und dennoch: Man kann wieder junge Bergulmen am Wegrand finden und selten sogar einen
älteren Baum. Die beste Zeit dafür ist das Frühjahr. Spätestens wenn der aufmerksame Spaziergänger

am Boden ungewöhnliche kleine, durchscheinende Blättchen entdeckt, sollte er sich umblicken und
nach dem Baum suchen, der sie entlassen hat – dann ist er einer ULME auf der Spur …
*Frits H. Julius „Bäume und Planeten“ Beitrag zu einer kosmologischen Botanik, Verlag Freies Geistesleben

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