Zeit geben und vertrauen – über das Wachsen lassen in der Pädagogik

Text: Andrea Heilemann, St. Thomas am Blasenstein, Foto: Ilse Liszt

„…Das ganze Leben ist wie eine Pflanze, welche nicht nur das enthält, was sie dem Auge darbietet, sondern auch noch einen Zukunftszustand in ihren verborgenen Tiefen birgt. Wer eine Pflanze vor sich hat, die erst Blätter trägt, der weiß ganz gut, dass nach einiger Zeit an dem blättertragenden Stamm auch Blüten und Früchte sein werden. Und im Verborgenen enthält schon jetzt diese Pflanze die Anlagen zu diesen Blüten und Früchten …“

Aus: Rudolf Steiner „Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft“ Dornach 1988

In dem Vertrauen, dass die Pflanze Blüten und Früchte hervorbringt, lassen wir sie wachsen, aber ich kann auch etwas dafür tun. Ich kann Bedingungen schaffen, in denen ich der Pflanze bestimmte helfende Nährstoffe zufüge, sodass sie kräftiger wird bzw. gegen schädliche Einflüsse geschützt wird. Wir begeben uns in ein sinnvolles Arbeiten mit den Kräften der Natur. Heute aber neigen viele dazu, den Pflanzen nicht mehr die Zeit zum Wachsen zu lassen, sondern das Wachstum, das Fruchttragen künstlich zu beschleunigen und zu steigern.

Auch das menschliche Leben enthält die Anlagen seiner Zukunft in sich. Doch anders als bei der Pflanze können wir nicht voraussehen, welche Blüten und Früchte jedes einzelne Menschenwesen tragen wird. Auch fällt es uns beim heranwachsenden Menschen schwerer, das Wachsen mit Zeit und Vertrauen in Verbindung zu bringen. Neun Monate kann sich der Embryo bis zu seiner physischen Geburt im Mutterleib entwickeln. Mit dem Erblicken des Lichtes der Welt ist das Neugeborene den Einflüssen seiner Umwelt ausgeliefert. Gleichzeitig bleibt die eigentliche menschliche Natur nach der physischen Geburt weiterhin in einer Art embryonalem Zustand. Die Eigenschaften des Lebensleibes, des Astralleibes und des Ichs werden noch nicht sichtbar, sind sozusagen noch von Mutterhüllen umschlossen und werden erst nach und nach geboren. Ein Wachsenlassen, ein Zeitgeben sind auch hier von entscheidender Notwendigkeit. Ähnlich wie bei der Pflanze, wo etwas künstlich beschleunigt und gesteigert wird, tut sich die Menschheit mit ihren vielen Errungenschaften immer schwerer, den Entwicklungsschritten Zeit einzuräumen. Kein vernünftiger Mensch käme auf die Idee, die neunmonatige Embryonalzeit verkürzen zu wollen. Aber bei der „Embryonalzeit“ des Lebensleibes und des Astralleibes meint man, sich Verkürzungen und Beschleunigungen erlauben zu können.

Hier ein Beispiel, warum ein Beschleunigen der Entwicklung schadet: Es geht  um die Kopfentwicklung, die erst mit dem Zahnwechsel abgeschlossen ist, denn in den ersten Lebensjahren schläft der Geist im Kopfe und das Seelische träumt. Ein einseitig intellektuelles Ansprechen des Kindes im ersten Lebensjahrsiebt weckt vorzeitig den im Kopf noch schlafenden Geist. Stattdessen wäre es so bedeutsam, das Kind in seinen ersten sieben Lebensjahren vor allem als ein nachahmendes Wesen wahrzunehmen.

Und wie gestaltet sich die Entwicklung des Kindes in den ersten Lebensjahren im Brust- bzw. im Gliedmaßenbereich? Während im Brustbereich das Leiblich – Seelische vorherrscht, sind im Gliedmaßenbereich vom ersten Augenblick des Lebens an Geist, Seele und Leib innig miteinander verbunden. Brust – und Gliedmaßenmensch haben die Aufgabe den Kopfmenschen aufzuwecken. Willenserziehung im Bereich des Gliedmaßenmenschen und Gemütserziehung im Bereich des Brustmenschen sind die wesentlichen Aufgaben der Erziehung.

Ich habe in meiner Zeit als Klassenlehrerin, besonders in meinem dritten Durchgang, verstärktes Augenmerk auf diese beiden Bereiche gelegt. Ausschlaggebend dafür war die Beobachtung, dass uns die Kinder in der heutigen Zeit in einer anderen Weise begegnen als in den Jahren zuvor – sie sind ein Stück weit individueller. Das Handwerk, die Kunst und die Natur sollten im Schulalltag verstärkt Platz finden. Ich habe dabei folgenden Weg gewählt: Bereits eine halbe Stunde vor dem offiziellen Unterrichtsbeginn haben die Schüler ab der ersten Klasse die Gelegenheit bekommen, in kleinen Werkstattbereichen zu arbeiten. Diese Gelegenheit wurde von allen Schülern freudig aufgegriffen. Hier wurde gekocht, geschnitzt, gehämmert, gefilzt, gewebt und vieles mehr. In diesen morgendlichen Werkstätten stand also die Arbeit mit den Händen, die Willensbildung im Vordergrund. Weiters habe ich großen Wert auf das Theaterspiel gelegt. In jeder Klassenstufe wurde ein größeres Projekt umgesetzt. Durch das Eintauchen in eine andere Welt, das Berührtwerden durch menschliche Schicksale und die Arbeit mit dem ganzen Körper wird hier vor allem die Gemütsbildung angesprochen.

Bei diesen Beispielen sollte beachtet werden, dass diese Vorgänge immer im Einklang mit den weiteren „Geburten“ des menschlichen Wesens gesehen werden müssen. Dabei handelt es sich um die Geburt des Lebensleibes um das siebte Lebensjahr, die Geburt des Astralleibes um das 14. Lebensjahr und die Ich- Geburt um das 20. Lebensjahr.

Unsere Zeit wird immer schneller, immer mehr Informationen stehen uns zur Verfügung, doch die Entwicklung des menschlichen Wesens bleibt wie zum Trotz in seinem Siebenjahresrhythmus.

Nach mehr als 30 Jahren pädagogischer Tätigkeit, davon 26 Jahre als Klassenlehrerin, haben sich mir diese Entwicklungsbögen als essenziell in meiner Arbeit gezeigt. Es scheint mir, dass es immer wichtiger wird, allen pädagogisch wirkenden Menschen Mut zu machen, an  Steiners Erkenntnissen festzuhalten und gegenüber modernen Entwicklungen im Bildungsbereich zu behaupten.

Kinder sind in ihrer bedingungslosen Lernbereitschaft auch vor dem Schuleintritt natürlich für kognitive Lernprozesse offen. Doch durch eine vorzeitige Forcierung der intellektuellen Anforderungen entzieht man dem Körper Bildekräfte, die er eigentlich noch auf anderer Ebene benötigt: Lernkräfte sind metamorphisierte Wachstumskräfte. Zu frühes intellektuelles Arbeiten führt zur Schwächung der Konstitution.

Die wichtigsten pädagogischen Maßnahmen sind heute Zeit lassen, Anregungen geben, Freiraum geben, dass das Wachsen von sich aus geschieht. Denn unsere Aufgabe ist es doch, das, was im Menschen veranlagt ist, hervorzubringen.

Was brauchen wir heute vor allem, um Menschliches wachsen zu lassen? Ich glaube, wir brauchen viel mehr Vertrauen und Zutrauen – so wie es in den Worten des Herrn in Bezug zum Faust zum Ausdruck kommt, in denen er „seinen“ Faust gegen Mephistopheles verteidigt:

Wenn er mir auch nur verworren dient,
So werd ich ihn bald in die Klarheit führen.
Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt,
Das Blüt und Frucht die künft’gen Jahre zieren.

Goethe, Faust. „Der Tragödie erster Teil“, Prolog im Himmel

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