Zeit im Zeichen der Waage

Ein Blick auf die soziale Dimension von Corona

Text: Ines Kanka

Kann es heute noch darum gehen, die Ereignisse der Welt aus dem Blickwinkel absolut geltender, einfacher Wahrheiten zu bewerten? Ich meine nein. Spätestens mit dem Eintritt in das aktuelle Jahrhundert fordert uns die Erde mit dem sie umspannenden sozialen Leben auf, sie in ihrer Multidimensionalität und Vielschichtigkeit wahrzunehmen und zu behandeln, sie also – im Bilde gesprochen – als Sphäre statt als Scheibe zu begreifen. Die gesellschaftlichen Prozesse greifen heute weltweit ineinander, sind hochgradig vernetzt und wechselseitig voneinander abhängig, wölben sich zu einem ausdifferenzierten Ganzen. Wir können erleben, wie dieses Gesellschafts-Ganze heute in unterschiedliche Funktionssysteme gegliedert ist, die sich an verschiedenen Richtkräften orientieren und von unterschiedlichen Verantwortlichkeiten getragen werden.

Simple Bewertungsmaßstäbe wie gut und böse, richtig und falsch, schwarz und weiß taugen nicht mehr als Kompass in unserem modernen Gemeinschaftswesen, vielmehr ist ein mehrdimensionales Betrachten der gesellschaftlichen Ereignisse in ihren jeweils konkreten Kontexten und der zu setzenden Handlungsschritte mit ihren Folgen gefragt. Dabei braucht es statt absolut gesetzter Wahrheiten, klare Ideen und bewegliche Begriffe. Zu deren Ausgestaltung im konkreten Leben braucht es wiederum Phantasie und die Fähigkeit, an das Bestehende anzuknüpfen. Wer seine Vorstellungen wie eine Fahne vor sich her trägt, und diese in einer Art Kurzschluss-Reaktion verwirklicht sehen will, vergisst aufs Brückenbauen und schließt sich selbst aus. “Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“, formuliert es Rudolf Steiner in der Philosophie der Freiheit. Diese Knechtschaft mag dann vielleicht wie von außen erlebt werden, zeugt aber von innerer Unfreiheit.

Die aktuelle Corona-Krise bietet uns ein Erfahrungsfeld mit Chancen aber auch mit dem Potenzial zu sozialer Spaltung und Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas. Dies ist insbesondere zu beobachten, wenn Sichtweisen und daraus resultierendes Handeln auf das Phänomen Corona noch zu wenig ins Verhältnis gesetzt werden mit anderen Blickwinkeln auf das Geschehen; oder wenn einzelne gesellschaftliche Gruppierungen mit ihren elementaren Bedürfnissen übersehen, als absolut gesehen oder gegeneinander ausgespielt werden. Jeglicher Absolutheitsanspruch und jede Engführung des Blicks bei den Akteur*innen auf allen Seiten (mit Macht ausgestattet oder aus der Ohnmacht heraus) wirkt sich hier kontraproduktiv auf das soziale Miteinander und auf das konstruktive Bauen an der gemeinsamen Zukunft aus.

Was tut not?

Mehr denn je sind – ausgehend von einem möglichst umfassenden und differenzierten Bild und dem transparenten Sichtbarmachen aller Phänomene und Fakten – soziale Wägevorgänge gefragt. Es braucht besonnenes Abwägen und feinfühliges Austarieren zwischen den Bedürfnissen einzelner Gesellschaftsgruppierungen (Kinder und alte Menschen, Stadt- und Landbevölkerung, etc.) und zwischen einzelnen, sich teilweise polar gegenüberstehenden Standpunkten (Schulmedizin und Naturheilkunde, etc.), zwischen einzelnen Interessenlagen (Wirtschaft, Bildung, Gesundheit, etc.) und Wertvorstellungen (Freiheit und Solidarität, Selbstbestimmung und Schutzbedürfnis, etc.), die alle in unserer Gesellschaft leben und berücksichtigt sein wollen.

Auch wenn hier noch ein Mangel an sozialer Organik erkannt werden kann*, die nötig wäre, um solche Abstimmungsprozesse überhaupt gesamtgesellschaftlich leisten zu können, so wird hier doch die Notwendigkeit einer modernen Kunst sichtbar: das soziale Wägen und Gestalten oder, im Bilde gesprochen, die michaelische Qualität der Waage. Das Schwert des Sankt Michael bringt einen Kampf zum Ausdruck, dessen Schauplatz “in das menschliche Herz gelegt ist” (Rudolf Steiner am 19. Juli 1924, GA 240) und der nicht im äußeren Leben zu fechten ist. Wir haben also im eigenen Innern darum zu ringen, dass sich in uns die lichten, michaelischen gegen die dumpfen, dunklen Kräfte durchsetzen. Draußen im Leben jedoch fordert die Zeit von uns heute mehr denn je die Waage-Qualität des Ausbalancierens im Hinblick auf ein neues soziales Gleichgewicht.

Da es noch keine Rezepte zum Umgang mit den Herausforderungen von Corona gibt, brauchen wir also Erfindungsgeist beim Betreten dieses Neulands: Doch statt nach Entweder-Oder-Lösungen müssen wir verstärkt in Richtung eines Sowohl-Als-Auch suchen, nach Lösungen, die noch weitere Dimensionen integrieren. Und sind wir nachsichtig mit uns: wir wissen alle noch nicht wie es geht! Oder um es mit den Worten des deutschen Gesundheitsministers Jens Spahn zu sagen: “Wir werden einander viel zu verzeihen haben”. Ziehen wir daher nicht in den Kampf gegen uns Menschen, unterstellen wir einander nicht böse Absichten, Verantwortungslosigkeit, Fremdgesteuert-sein und dergleichen, von dem wir uns selbst frei wähnen. Setzen wir stattdessen auf den Willen zum Guten und das kreative Potenzial in jedem Menschen. Und bauen wir gleichzeitig solche soziale Strukturen und Prozesse in unserer Gesellschaft auf, in denen eine Vielfalt und Breite an Ideen zur Lösung unserer sozialen Probleme eine Wirksamkeit entfalten kann.
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*) Diesem Mangel an einer solchen sozialen Organik versuchen wir Kolleg*innen von der IG-EuroVision mit der Initiative für komplementäre Demokratie zu begegnen, indem wir einen direkt-demokratischen Lebensprozess vorschlagen, der ein solches gesellschaftliches Abwägen möglich machen und die Polarität zwischen den Ideen und den Impulsen der einzelnen Menschen und der ganzen Gesellschaft überbrücken könnte. Auch die gerade viel diskutierten Bürger*innen-Räte könnten ein adäquates Instrument sein, eine Krise, wie wir sie in der Pandemie haben, zu gestalten. In Bezug auf die Klimakrise werden dazu – beispielsweise in Frankreich – schon Versuche gemacht. Auch unsere anderen ebenfalls in der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus wurzelnden Initiativen können als Ausführungen der hier beschriebenen Gedanken in Form konkreter Projekte betrachtet werden. Ich habe hierzu ja schon gelegentlich im Wegweiser berichtet.

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